Ein Jahr nach dem Pariser Normandie-Gipfel: Was wurde seitdem erreicht?

Am 9. Dezember 2019 fand in Paris ein Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs im Normandie-Format (Ukraine, Deutschland, Frankreich und Russland) statt. Ein Jahr später hat das Ukrainian Crisis Media Center (UCMC) eine öffentliche Debatte über die Fortschritte bei der Umsetzung der Vereinbarungen bezüglich eines Friedens in Donbass durchgeführt. Die Diskussion fand am 11. Dezember 2020 im UCMC-Pressezentrum statt.

Wie ist der internationale rechtliche Status der Minsker Vereinbarungen? Was hat die Ukraine zusammen mit ihren Partnern bei der Umsetzung der Vereinbarungen erreicht und was hat Russland im Laufe des Jahres getan? Wie versteht die Ukraine den Prozess der De-Okkupation und Reintegration und unter welchen Bedingungen sind Wahlen in den vorübergehend besetzten Gebieten möglich? Warum müssen Friedenstruppen an der Grenze der Ukraine zu Russland und in den vorübergehend besetzten Gebieten einbezogen werden und in welchem ​​Format kann dies sichergestellt werden? Diese und andere Themen standen im Mittelpunkt der Diskussion.

An ihr nahmen Vertreter parlamentarischer Fraktionen sowie Vertreter der ukrainischen Delegation in der Trilateralen Kontaktgruppe zur friedlichen Beilegung der Lage in Donbass teil. Die Veranstaltung wurde von Walerij Tschalyj, Vorstandsvorsitzender des UCMC und Außerordentlicher und Bevollmächtigter Botschafter der Ukraine, moderiert.

Hier sind die wichtigsten Thesen der Diskussion:

Der Schlüssel zur Beendigung der Aggression und zur Schaffung von Frieden liegt im Kreml

Der ukrainischen Gesellschaft und den ukrainischen Politikern ist klar: Hauptgrund für den Mangel an signifikanten Fortschritten bei der Umsetzung der Vereinbarungen ist die Position Russlands und seine Aggression gegen die Ukraine, die bereits seit sieben Jahren andauert. Walerij Tschalyj betonte dies gleich zu Beginn der Diskussion und sagte ferner:

“Der Verhandlungsprozess ist lang und erfordert ernsthafte analytische Ansätze. Ich hoffe, dass wir am Ende der Diskussion zu einer gemeinsamen ukrainischen Position finden. Natürlich können wir über die Ergebnisse des Jahres seit dem Gipfel in Paris sprechen, darüber, was die Ukraine getan hat oder nicht getan hat. Wir alle wissen aber, dass der Hauptgrund dafür, dass die Minsker Vereinbarungen nicht umgesetzt werden, die Position Russlands ist.”

Auch Iwanna Klympusch-Zinzadse, Parlamentsabgeordnete der Fraktion “Europäische Solidarität” und Vorsitzende des parlamentarischen Ausschusses für die Integration der Ukraine in die Europäische Union, stellte fest, dass Russland seinen Verpflichtungen nicht nachkommt und den Friedensprozess verlangsamt.

“Vor anderthalb Jahren waren wir als ukrainische Gesellschaft dem Glauben verfallen, dass diese ukrainische Führung daran interessiert ist, mit dem Krieg Geld zu machen. Ich hoffe, dass der ukrainischen Staatsmacht ein Jahr nach dem Gipfel klar wird, dass der Schlüssel zum Frieden weiterhin in Moskau liegt. Russland ist nicht daran interessiert, die besetzten Gebiete nach internationalem Recht an die Ukraine zurückzugeben. Russland ist daran interessiert, durch Chaos oder direkte Herrschaft vollen Einfluss auf die gesamte Ukraine zu haben.”

Klympusch-Zinzadse fügte hinzu, dass die Ukraine für Russland eine Plattform sei, über die es versuche, ins “große Spiel” zurückzukehren. Mit der Aggression in der Ukraine und in Syrien versuche Russland, seine Präsenz auf der Weltbühne zu erhöhen.

Oleksij Arestowytsch, der kürzlich zum Sprecher der ukrainischen Delegation in der Trilateralen Kontaktgruppe ernannt wurde und Berater des Büroleiters des Präsidenten der Ukraine ist, glaubt ebenfalls, dass die Haltung Russlands der Hauptgrund dafür ist, dass die Pariser Vereinbarungen nicht umgesetzt werden. Seiner Meinung nach treiben die Vertreter der Russischen Föderation systematisch und konsequent zwei Narrativa voran. Erstens versuchen sie, alle seit Sommer 2014 unterzeichneten Vereinbarungen zu ignorieren und bestehen selektiv auf dem, was im Februar 2015 unterzeichnet wurde, da dies ihrer Meinung durch die Vereinten Nationen festgeschrieben wurde. Zweitens versucht Russland, der Ukraine einen direkten Dialog mit den Terrororganisationen in den von Kiew nicht kontrollierten Gebieten im Donbass aufzuzwingen.

Zum ersten von Arestowytsch erwähnten Narrativ der Russen sagte Walerij Tschalyj: “Wenn die russische Seite sagt, dass die Vereinten Nationen die Minsker Vereinbarungen auf internationaler rechtlicher Ebene festgeschrieben haben, dann ist das nicht wahr. In rechtlicher Hinsicht entspricht dies keinen Grundlagen. Es wurde versucht, dies zu tun. Im UN-Dokument findet sich keine Bestätigung, dass die Minsker Abkommen ein internationales Rechtsdokument sind. Das ist Manipulation”, betonte er.

Im Zusammenhang mit dem zweiten Narrativ, das auf Russlands Wunsch basiert, die Ukraine zu einem direkten Dialog mit Vertretern der von Kiew nicht kontrollierten Bezirke der Regionen Donezk und Luhansk zu zwingen, sagte das Mitglied der Fraktion der regierenden Partei “Diener des Volkes”, Andrij Kostin, der die Ukraine in der Arbeitsgruppe für politische Fragen der Trilateralen Kontaktgruppe zur Lösung der Situation im Donbass vertritt und Vorsitzender des parlamentarischen Ausschusses für Rechtspolitik ist:

“Wir haben eine prinzipielle Haltung. Wir wiederholen immer wieder, dass die Trilaterale Kontaktgruppe die Ukraine, Russland und die Moderation seitens der OSZE ist. Wenn Russland versucht, als Moderator oder Vermittler aufzutreten, dann ist das Unsinn. Dies ist ein Konflikt zwischen Russland und der Ukraine. Teilnehmer aus den nicht anerkannten Gebieten können nicht anerkannt werden. Wir sagen den Vertretern der Russischen Föderation: ‘Sie erkennen diese Gebiete selbst nicht als Subjekte an. Warum vergeuden wir also Zeit darauf, um irgendeinen Dialog mit ihnen aufzunehmen?'”

Die wichtigsten Errungenschaften

Die ukrainische Delegation in der Trilateralen Kontaktgruppe ist zurückhaltend, was die Bewertung der Fortschritte bei der Lösung des Konflikts in der Ostukraine angeht. Oleksij Arestowytsch bezeichnete die Verhandlungen im Format der Trilateralen Kontaktgruppe als “langsames Vorankommen”.

“Unsere Delegation beschreibt das, was geschieht, als sehr langsames Vorankommen. Man kann sagen, dass es auch bezüglich der Kontrollpunkte ein Vorankommen gibt. Leider ist dies aber ein sehr langsames Vorankommen, auch bei der Freilassung von Häftlingen. Aber der Normandie-Prozess existiert und funktioniert”, sagte Arestowytsch.

Ihm zufolge wurden die Pariser Vereinbarungen nur teilweise umgesetzt. Die größte Errungenschaft sei die relative Wahrung des Waffenstillstands, der seit Juli 2020 andauert.

Ferner betonten die Teilnehmer der Veranstaltung, zu den positiven Ergebnissen des Jahres zähle die Eröffnung neuer Kontrollpunkte, die Minenräumung und die Truppenentflechtung.

“Der vollständige Waffenstillstand und die Eröffnung von zwei neuen Kontrollpunkten, die Vereinbarungen zur Minenräumung und Truppenentflechtung zeigen, dass die Ukraine bereit ist, die mit internationalen Partnern vereinbarten Vereinbarungen umzusetzen. Die Tatsache, dass Russland dies nicht tun will, ist ein Signal für die internationale Gemeinschaft und Grund, die Sanktionen aufrechtzuerhalten”, unterstrich Andrij Kostin und fügte hinzu: “Wir freuen uns, dass die Sanktionen in Kraft bleiben und dass unsere Partner, Frankreich und Deutschland, genau verstehen, was vorsichgeht.”

Iryna Heraschtschenko, Abgeordnete der Partei “Europäische Solidarität” und Mitglied des parlamentarischen Ausschusses für Außenpolitik und interparlamentarische Zusammenarbeit, sagte ihrerseits, positiv sei, dass Vertreter der Binnenflüchtlinge aus dem Donbass zu den Verhandlungen, insbesondere der Trilateralen Kontaktgruppe, hinzugezogen würden.

Schließlich stellten die Diskussionsteilnehmer fest, positiv sei im vergangenen Jahr gewesen, dass die ukrainische Delegation in der Trilateralen Kontaktgruppe zu einer proaktiven Arbeit übergegangen sei. Serhij Rachmanin, Parlamentsabgeordneter und Vorsitzender des vorübergehenden Sonderausschusses, der für die Erarbeitung und Umsetzung einer staatlichen Politik zur Wiederherstellung der territorialen Integrität und zur Gewährleistung der Souveränität der Ukraine zuständig ist, sagte:

“Die ukrainische Delegation versuchte proaktiv zu sein und ihre Agenda durchzusetzen. Es wurde versucht, einige Dinge im Detail zu regeln: Die Schaffung von Arbeitsgruppen zur Übergabe der Gebiete unter die Kontrolle der ukrainischen Behörden, die Auflösung der Besatzungsverwaltungen, der Abzug der Truppen und der Umgang mit Kennzeichen, die in den von Kiew nicht kontrollierten Gebieten herausgegeben wurden. Das hatte zur Folge, dass wir unsere Position unseren internationalen Partnern klarer vermitteln und schrittweise aus dem Minsker Prozess herauskommen können.”

Die wichtigsten Herausforderungen

Trotz des langsamen Fortschritts enthält die Bilanz des Jahres noch viele Herausforderungen. Davon sind die Teilnehmer der Debatte im UCMC überzeugt. Vor allem sollten auch positive Veränderungen ein strategisches Ziel im Interesse der Ukraine verfolgen und keine taktischen Antworten auf die Erpressung durch Russland sein.

“Die Ukraine hat drei weitere Abschnitte zur Truppenentflechtung vereinbart. Das Militär bestand darauf, dies dort zu tun, wo es für die Ukraine nicht kritisch ist. Die Tatsache der Truppenentflechtung an sich ist negativ, da sie keine Konsequenzen für die Bevölkerung vor Ort hat. Eine Truppenentflechtung ist dann sinnvoll und logisch, wenn zumindest mittelfristig das Ziel besteht, beispielsweise eine Sicherheitszone zu schaffen oder eine Friedenstruppe zu stationieren. Solange es keine Sicherheitszone gibt, wird niemand Friedenstruppen schicken. Es muss einen absoluten Waffenstillstand geben. Jetzt erpressen uns die Russen mit Waffenstillstandsbedingungen”, erläuterte Serhij Rachmanin und fügte hinzu: “Es darf nicht nur solche Einigungen geben, damit nur ein weiterer Gipfel abgehalten werden kann. Was die Geiseln betrifft, erpressen uns die Russen einfach. Es gab eine Kategorie von Häftlingen, die sie unbedingt haben wollten: Berkut-Mitglieder, MH17-Zeugen usw.”

Negativ sei, so der Parlamentsabgeordnete, dass es auf ukrainischer Seite keine Geschlossenheit gebe, sondern chaotische Aussagen und chaotische Positionen, was dem Ansehen im Ausland geschadet habe. Das seien unter anderem “viele Dinge” gewesen, die der ehemalige ukrainische Präsident Leonid Krawtschuk, der im Herbst 2020 zum Leiter der Delegation in der Trilateralen Kontaktgruppe ernannt worden war, geäußert habe. Seine willkürlichen Überlegungen zu bestimmten Themen hätten mit der offiziellen Position der Delegation nicht übereingestimmt, so Rachmanin.

Auch Iwanna Klympusch-Zinzadse findet, dass seitens der ukrainischen Staatsmacht eine klare Kommunikationslinie fehle, was sich negativ auf die Unterstützung durch internationale Partner auswirke.

“Unsere internationalen Partner verstehen uns nicht immer. Die Ukraine hat aufgehört, ihre Ziele, Aufgaben, Prinzipien und Sicherheitsinteressen klar zu kommunizieren. Die Ukraine, die es mit einer Diskussion weg vom politischen Normandie-Format hin zum technischen Minsk-Format zu tun hat, wird von unseren Partnern immer weniger verstanden. Die Klarheit der Position der Ukraine ist heute verloren gegangen”, so die Abgeordnete.

Auch Iryna Heraschtschenko führte einige negative Punkte des Jahres auf: “Wir müssen darüber reden, dass die Waffenruhe verletzt wird. Die Frage der Freilassung von Geiseln wird blockiert und es ist manchmal unklar, für wen die ukrainische Seite sich einsetzt – ihre Namen, Familien, und was sie getan haben. Öffentlichkeit kann das Leben und die Gesundheit dieser Menschen retten, sie schützen. Die Vereinbarung über den Zugang des Roten Kreuzes zu Gefängnissen in den besetzten Gebieten ist nicht umgesetzt worden”, kritisierte die Parlamentsabgeordnete.

Außerdem betonte Heraschtschenko, dass zu den negativen Punkten dieses Jahres die Tatsache gehöre, dass das ukrainische Außenministerium faktisch aus dem Normandie-Format entfernt worden sei. Zudem fehle eine Diskussion über die Stationierung von UN-Friedenstruppen.

Abschließend kamen die Teilnehmer der Diskussion zum Ergebnis, dass Russland weiterhin das Haupthindernis bei der Lösung des Konflikts ist, während die Ukraine ihren internationalen Verpflichtungen nachkommt, auch wenn im Innern des Landes eine stärkere konsolidiert Haltung und gemeinsame strategische Vision nötig ist. Gerade eine klare Position der Ukraine könne die internationale Unterstützung des Landes im Kampf gegen die russische Aggression stärken und konsolidieren.