Kiew, 29. April 2016 – Am Vorabend des zweiten Jahrestags der tragischen Ereignisse in Odessa ist die Situation in der Stadt sehr angespannt. “Der Konflikt ist unterschwellig immer noch da”, sagte die Journalistin Tetjana Herasymowa während einer Pressekonferenz im Ukraine Crisis Media Center. Sie ist Mitglied der “Gruppe 2. Mai”. Die gesellschaftliche Organisation führt unabhängige Untersuchungen der Tragödie vom 2. Mai 2014 durch.
Damals waren in Odessa bei Zusammenstößen zwischen Anhängern des “Anti-Maidan Odessa” und proukrainischen Aktivisten sowie bei einem Brand im Gewerkschaftsgebäude Dutzende Menschen ums Leben gekommen. Unklar ist bis heute, wer die tödlichen Schüsse abgab und wie genau das Gebäude in Brand geriet. Festgenommen wurden damals in diesem Zusammenhang 20 Personen. Die Ermittler der Abteilung des Innenministeriums im Gebiet Odessa haben die Sache an ein Gericht in Odessa übergeben.
Spannungen in Odessa dauern an
Ein Grund für die bis heute andauernden Spannungen sei, so Herasymowa, die Propaganda der prorussischen Medien, die immer wieder das Feuer im Gewerkschaftsgebäude zum Thema machen würden. Das Feuer, verursacht von “ukrainischen Nazis”, stelle die Propaganda als “Opferbringung” dar. Entsprechende Filme und Bücher würden in ganz Europa verbreitet. Es gebe sogar Konferenzen darüber. Zugleich verschweige aber jene Propaganda Ereignisse im Zentrum von Odessa, wo zur gleichen Zeit vor zwei Jahren nach Provokationen seitens der sogenannten “Odessa Gefolgschaft” mehrere proukrainische Aktivisten erschossen wurden.
Ein weiterer Grund für die Spannungen sei die Tatsache, dass es seit mehr als anderthalb Jahren keine Fortschritte bei den offiziellen Ermittlungen gebe. Gerade Fakten von Experten offizieller Stellen wären die besten Argumente gegen die Propaganda. “Den Informationskrieg kann man nur mit Fakten bekämpfen. Das ist das einzige, was wir dem Strom von Lügen und der Desinformation entgegensetzen können. Nur adäquate und objektive Untersuchungen und ein Gerichtsprozess können helfen, den Konflikt zu lösen und einen Dialog in Gang setzen”, betonte Herasymowa.
Behinderung bei der Beweisfindung
Von den ersten Tagen der Tragödie an wurden die staatlichen Ermittlungen schlampig geführt. So wurden bei Festnahmen keine Pulvergas-Proben an Kleidungsstücken und an den Händen genommen, die eine Beteiligung und den Einsatz von Waffen hätten beweisen oder widerlegen können. Nach Aussagen von Zeugen der Bewegung “Anti-Maidan Odessa” hatte die Polizei sie gebeten, alle Waffen in Polizeiautos zu legen. “Deswegen ist es unmöglich festzustellen, wer geschossen und Explosiva verwendet hat”, sagte Wladislaw Balynskyj, Chemieexperte der “Gruppe 2. Mai”.
Viele Beweise sind verloren gegangen. Mitarbeiter kommunaler Dienste hatten die Straßen schon gereinigt, bevor die Ermittler Beweise, darunter Hülsen und Patronen, sammeln konnten. Das Gewerkschaftshaus, in dem Menschen verbrannt waren, wurde nach nur drei Tagen für Besucher wieder geöffnet. Auch dort wurden viele Beweise vernichtet. Aktivisten vermuten, dass Vertreter und Anhänger prorussischer Kräfte in den lokalen Behörden zum damaligen Zeitpunkt die Beweisfindung behindert haben. Deswegen sammeln proukrainische Aktivisten wie von der “Gruppe 2. Mai” selbst Beweise und setzen sich für eine transparente Untersuchung aller Vorgänge ein.
Aktivisten haben die Arbeit der Ermittler gemacht
Vor kurzem stellten die Aktivisten in Odessa ihren Bericht über die Ereignisse vom 2. Mai der Öffentlichkeit vor. Der Bericht enthält detaillierte Informationen über den Brand im Gebäude der Gewerkschaften und den Einsatz von Feuerwaffen. In dem Bericht wird sogar genannt, wer zuerst eine Waffe benutzte. Die Person wurde von Passanten gefasst, aber die Ermittler konnten die Person keinem Lager zuordnen. Aktivisten vermuten, dass die Person ein Provokateur war. Es wurde festgestellt, dass bei den Zusammenstößen Explosiva verwendet wurden, kurzläufige Feuerwaffen, Jagdwaffen und Waffen vom Typ Kalaschnikow-AKS74-U oder deren Modifikation. Gerade mit solch einer Waffe wurde der proukrainische Aktivist Ihor Iwanow getötet.
Als Schütze wurde Witalij Budko identifiziert. Aktivisten zufolge gab er bis zu elf Schüsse ab. Doch die Aussagen prorussischer Aktivisten wichen von einander ab. In einem Fall stellten sie fest, dass Budko nur mit Rohlingen geschossen habe, in einem anderen Fall hieß es, er habe nur eine Attrappe in der Hand gehabt. Experten widerlegten jedoch beide Aussagen mit Hilfe eines Videos, das beweist, dass Budko scharfe Munition verwendete. Am Ort des Geschehens wurden Hülsen und Kugeln gefunden, die den Einsatz von Schusswaffen belegen. Aktivisten glauben, dass der ukrainische Aktivist Ihor Iwvanow durch eine Kugel aus Budkos Waffe ums Leben kam. In dem Video war keine weitere Waffe mit dem selben Kaliber zu sehen, die Budkos Waffe hatte. Budko und Iwanow befanden sich in ein und dem selben Bereich der Unruhen. Ferner haben die Aktivisten Beweise dafür, dass prorussische Aktivisten aus dem Gebäude der Gewerkschaften geschossen haben.
Feuer im Gewerkschaftsgebäude
Experten der “Gruppe 2. Mai” stellten genau fest, wann und wo das Feuer ausbrach und wie es sich ausbreitete. Ein dynamisches Modell des Brandes wurde mit den Fundstellen der Leichen, aber auch mit den Zeugenaussagen und den Ergebnissen der Gerichtsmediziner verglichen. Dieses dynamische Modell des Brandes wurde von der Internationalen Beratergruppe des Europarates und der Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine anerkannt.
“Das Feuer brach durch einen Molotowcocktail aus, aber es ist unklar, ob er vom Platz vor dem Gebäudes aus geworfen wurde, oder ob es ein misslungener Wurf einer Flasche im Foyer des Gewerkschaftsgebäudes war”, sagte Wladislav Balynskyj. Zuerst geriet die große Barrikade in Brand, die Anhänger des Anti-Maidan im Foyer des Gebäudes aufgebaut hatten. Innerhalb von Sekunden standen das Treppenhaus und der Bereich zwischen der ersten und zweiten Etage vollständig in Flammen. “Dort befanden sich die meisten Menschen. Wer es nicht schaffte aus dem Fenster zu springen, starb”, sagte Wladislaw Balynskyj. Unmittelbar im Gebäude der Gewerkschaften kamen 42 Personen um. Insgesamt gab es 48 Tote. “Wenn die Feuerwehr wenigstens 20 Minuten nach dem Anruf gekommen wäre, hätten die meisten Opfer vermieden werden können. Die nächste Feuerwache liegt nur 500 Meter entfernt”, sagte der Experte.
Untätigkeit der Feuerwehr und der Behörden
Was die kriminelle Untätigkeit der Feuerwehr angeht, wurde schon Ende 2014 ein Strafverfahren eingeleitet. Gefahndet wird nach dem ehemaligen Chef des Katastrophenschutzes im Gebiet Odessa, Wolodymyr Bodelan. Mit dem Fall befasst sich die Hauptermittlungsabteilung der Generalstaatsanwaltschaft. Aktivisten forderten ein ganzes Jahr lang ein Verfahren gegen den ehemaligen Chef der Abteilung des Innenministeriums im Gebiet Odessa, Petro Luzjuk, der nicht rechtzeitig Maßnahmen ergriff, um das Blutvergießen zu verhindern. Luzjuk wurde mehrmals vernommen und wird bald vor Gericht stehen.
Aktivisten fordern auch Strafverfahren wegen fahrlässigen Verhaltens bei Ermittlungen sowie wegen der Vernichtung von Beweismitteln in den Straßen und im Gewerkschaftsgebäude.