Zwei Jahre lang hat der ukrainische Präsident Petro Poroschenko eine Justizreform versprochen. Nun steht sie kurz vor dem Abschluss. Der Oberste Rat, das Parlament der Ukraine, verabschiedete am 2. Juni 2016 Änderungen zur Verfassung und ein Gesetz über das Gerichtswesen und den Status von Richtern. Sie sollen in der Ukraine ein neues Justizsystem aufbauen. 335 Abgeordnete votierten für die Reform. Nötig war eine Verfassungsmehrheit von mindestens 300 Stimmen.
Die Verfassungsänderungen und das neue Gesetz werden in drei Monaten, Anfang September, in Kraft treten. Was werden sie bewirken und welche Probleme gibt es noch? Die Redaktion von LІGA.net hat sich mit diesen Fragen an Rechtsexperten gewandt. Das Ukraine Crisis Medie Center bringt Auszüge aus einem Artikel, der in voller Länge bei LIGA.net nachzulesen ist.
Für die Reform
Es besteht die Chance, die Justiz zu erneuern. Die beiden vorangegangenen Versuche – das Gesetz zur Säuberung der Justiz und das Gesetz über die Lustration – zeigten keine Wirkung. Das Justizsystem blieb faktisch in der Form erhalten, wie es unter dem Ex-Präsidenten Wiktor Janukowytsch war.
Über das neue Gesetz sagte Roman Kujbida, Experte des ukrainischen Zentrums für politische und rechtliche Reformen: “Es wird die Möglichkeit geschaffen, die Richterschaft zu erneuern. Im Gegensatz zum bestehenden Gesetz, nach dem Richter, die eine Eignungsprüfung nicht bestehen, einfach in eine Richterschule geschickt werden, müssen sie künftig sofort entlassen werden. Wenn ein Richter nicht die rechtmäßige Herkunft seines Vermögens nachweisen kann, ist das auch ein Grund zur Entlassung”, sagte Kujbida gegenüber LІGA.net.
Das Oberste Gericht wird von Grund auf neu aufgebaut. Laut dem neuen Gesetz wird es die höchste Instanz in der Justiz des Landes sein. Man geht davon aus, dass ihm nicht mehr als 200 Richter angehören werden – halb so viele wie an den Kassationsgerichten und am Obersten Gericht heute. “Das ist ein großes Plus, eine große Chance. Statt der Kassationsgerichte, deren Qualität und Wirksamkeit sehr zu wünschen übrig lassen, wird von Grund auf ein neues Oberstes Gericht aufgebaut. Am Auswahlverfahren werden nicht nur ehemalige Richter teilnehmen können, sondern auch andere Fachleute auf dem Gebiet des Rechts”, sagte LІGA.net Mychajlo Schernakow, Experte für Fragen der Justizreform bei der gesellschaftlichen Organisation “Reanimations-Reformpaket” (RPR).
Die Richter müssen ihre familiären Bindungen offenlegen. Experten hoffen, dass diese Neuerung im Gesetz helfen wird, Klans in der ukrainischen Justiz aufzudecken und deren mögliche Aktivitäten zu unterbinden. Alle Richter sind künftig verpflichtet, ihre familiären Bindungen zu den Personen anzugeben, die in der Justiz tätig sind, aber auch in der Staatsanwaltschaft, in der Anwaltschaft und im höheren Staatsdienst.
Es soll öffentliche Dossiers zu Richtern und damit größere Kontrolle geben. Gemäß dem neuen Gesetz sollen Dossiers und elektronische Dateien über Richter auf einer Webseite der “Höheren Eignungs-Kommission für Richter” offen zugänglich sein. Unter anderem sollen dort auch die Ergebnisse des “Gesellschaftlichen Rates für Integrität” zur Verfügung stehen, und zwar unabhängig davon, ob diese Ergebnisse von der Eignungs-Kommission zur Kenntnis genommen wurden. “Damit wird ermöglicht, sich maximal über Richter zu informieren”, sagte der Reform-Experte Roman Kujbida.
Die Gehälter der Richter sollen erhöht werden. Das neue Gesetz legt das Gehalt in Ortsgerichten auf 30 Mindesteinkommen, in Berufungsgerichten auf 50 und am Obersten Gericht auf 75 fest. Das ist nur das reine Gehalt. Wie der ehemalige ukrainische Finanzminister, der Abgeordnete Wiktor Pynsenyk, erklärte, wird ab dem 1. Januar 2017 das Monatsgehalt eines Richters am Obersten Gericht 120.000 Hrywnja (umgerechnet rund 4000 Euro) betragen. Mit Zulagen kann ein Richter höherer Instanzen allerdings maximal 315.000 Hrywnja (rund 10.000 Euro) pro Monat erreichen. Die Anhebung der Gehälter soll dazu beitragen, die Korruptionsrisiken zu minimieren, sagen die Experten.
Wider der Reform
Die Schaffung eines Anti-Korruptions-Gerichts wird hinausgezögert. Wie LІGA.net von Gesprächspartnern in der Administration des Präsidenten erfuhr, soll das Gericht ausschließlich Fälle von Detektiven des “Nationalen Anti-Korruptionsbüro der Ukraine” (NABU) anhören. Zwar sieht das neue Gesetz die Schaffung eines Anti-Korruptions-Gerichts vor, aber weder Fristen noch die Befugnisse dieses Gerichts sind bislang deutlich festgelegt.
Die gesellschaftliche Organisation “Zentrum für Korruptionsbekämpfung” hielt vor kurzem ohne Erfolg vor dem Parlament eine Protestaktion ab, mit der Forderung, umgehend ein Anti-Korruptions-Gericht zu schaffen. Da noch ein weiteres Gesetz über das Anti-Korruptions-Gericht nötig ist, geht das Zentrum davon aus, dass so der Aufbau des Gerichts hinausgezögert werden soll. Wann ein weiteres Gesetz angenommen wird, ist unklar.
Der Einfluss der Öffentlichkeit wird behindert. Das neue Gesetz sieht ferner die Schaffung eines “Gesellschaftlichen Rates für Integrität” vor, der seine Bewertungen während der Eignungsprüfung von Richtern oder eines Anwärters auf ein Richteramt einbringen kann. Diese Bewertungen sollen Teil eines Richter-Dossiers sein. Allerdings ist die tatsächliche Rolle des Rates nach Ansicht von Roman Kujbida vom Gesetzgeber nivelliert worden. Denn die “Höhere Eignungs-Kommission für Richter” sei nicht verpflichtet, die Bewertungen des “Gesellschaftlichen Rates für Integrität” zur Kenntnis zu nehmen, sie könne sie sogar ignorieren.
Es fehlen noch notwendige Gesetze. Das Parlament hat nur Änderungen zur Verfassung und ein Gesetz über das Gerichtswesen und den Status von Richtern verabschiedet. Zugleich soll das Oberste Gericht schon im Rahmen eines neuen Verfahrensrechts arbeiten, das dem Parlament aber noch gar nicht zur Erörterung vorliegt. Über Fragen der disziplinarischen Verantwortung von Richtern soll in der Zukunft der Oberste Justiz-Rat entscheiden. Ein entsprechendes Gesetz ist auch noch nicht verabschiedet. “Wenn das Parlament die Gesetze nicht rechtzeitig annimmt, werden viele der Verfassungsänderungen in der Luft hängen”, warnt Roman Kujbida.
In welche Richtung bewegt sich die Justizreform? Die am 2. Juni verabschiedeten Verfassungsänderungen und das Gesetz über das Gerichtswesen sind nur eine Roadmap. Wie die Reform der Staatsanwaltschaft gezeigt hat, genügen Erklärungen allein nicht. Alle Neuerungen können in der Praxis leicht zunichte gemacht werden. “All dies sind nur Chancen. Garantiert ist nichts”, sagte Mychajlo Schernakow von der Expertengruppe RPR.
Das heutige Justizsystem in der Ukraine ist fest mit den Klan-Beziehungen verflochtet. Dort herrschen Korruption, politischer Einfluss und Abmachungen. Ob es dem Team von Präsident Poroschenko gelingt, das System zu ändern, und ob das Präsidialamt überhaupt will, was es verkündet, wird schon in drei Monaten klar sein.