Das Institute of World Policy (IWP) in Kiew hat die Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland untersucht und die Ergebnisse der Studie im Ukraine Crisis Media Center vorgestellt. Nach Ansicht der Experten sollten die künftigen Beziehungen der Ukraine zu Russland auf einer Strategie der Eindämmung beruhen. Diese sollte auf innenpolitischer Ebene beinhalten: Reformen, Wirtschaftswachstum und eine Stärkung der Verteidigungsfähigkeit. Auf außenpolitischer Ebene sollte die Ukraine den Experten zufolge ihre Position aktiver vertreten, Verhandlungen fortsetzen und eine Unterstützung seitens der internationalen Gemeinschaft mobilisieren.
Russland und der Anspruch auf regionale Führung
In der IWP-Studie heißt es, wichtigste Voraussetzung dafür, dass sich zurzeit eine solche politische Lage ergeben habe, sei der jahrhundertealte Anspruch Russlands auf regionale Führung, aber auch die Tatsache, dass Moskau die Ukraine als eigenen Satelliten betrachte. Deswegen habe Moskau auf die Versuche der Ukraine, einen eigenen Entwicklungsweg zu nehmen, mit Härte reagiert, sagte Olesja Jachno, Expertin des IWP. Erste Vorboten der Ereignisse im Jahr 2014 habe es bereits 2008 während des russisch-georgischen Kriegs gegeben. Doch erst bei Beginn der Revolution der Würde in der Ukraine 2013 seien sie an die Oberfläche getreten. Vorausgegangen sei dem ein Bruch in der politischen Strategie Russlands selbst, und zwar zu Beginn der dritten Amtszeit von Präsident Wladimir Putin. Sie habe mit den Ereignissen auf dem Moskauer Bolotnaja-Platz und mit einer Abkehr vom westlichen Weg hin zu einem “kalten Krieg” begonnen.
Welche Beziehungen nach der Krise?
Heute ist klar, dass die Entwicklungswege des ukrainischen und des russischen Staates diametral entgegengesetzt sind. In dieser Situation ist es für die Ukraine wichtig, die Entwicklung in Russland sorgfältig zu analysieren und zu versuchen, Moskaus Verhalten sowie dessen Auswirkungen auf die Lage in der Ukraine vorherzusagen, auch auf lange Sicht. Zugleich sollte man sich überlegen, wie die Beziehungen zu Russland nach der Krise aussehen sollen.
Laut den Verfassern der IWP-Studie sollten die Hauptforderungen der Ukraine darin bestehen, dass Russland seine imperialen Ambitionen und seinen Anspruch auf regionale oder globale Vorherrschaft aufgibt, Verträge einhält und alle Spekulation bezüglich der Amtssprache und der Kultur von Minderheiten in der Ukraine als Anlass zur Destabilisierung und Erpressung beendet.
Eindämmungsstrategie: Abbruch der diplomatischen Beziehungen und Visumpflicht
Was das Beste für die Ukraine wäre, da sind die Experten unterschiedlicher Meinung. “Das Wichtigste muss eine systematische Eindämmung des Aggressor-Staates sein, weil das der einzige Weg ist, ihn zu zwingen, das Völkerrecht zu achten”, sagte Wolodymyr Ohrysko, Leiter des ukrainischen Zentrums für Russland-Studien. Er war in den Jahren 2007 bis 2009 Außenminister der Ukraine. Seiner Meinung nach muss die Ukraine “die diplomatischen Beziehungen mit dem Aggressor-Staat abbrechen, die Visumpflicht einführen und endlich das verlassen, was als GUS bezeichnet wird”. Man könne nicht darauf hoffen, dass sich bald die Politik Russlands ändern werde. Dies müsse man auch den westlichen Partnern klarmachen. Die Politik der Ukraine sollte keine Reflexion auf das Vorgehen ihres Nachbarn sein, sondern ein eigenes politisches Spiel: die Umsetzung einer Strategie zur Eindämmung Russlands, begleitet von einer Verstärkung der Verteidigungsfähigkeit. “Dann werden wir für die NATO interessant und können der Allianz das anbieten, was sie jetzt nicht hat, und zwar eine starke Ostflanke”, sagte er.
Alternative: vorsichtige Strategie und Kontakt aufrechterhalten
Nach Ansicht von Kostjantyn Hryschtschenko, Außenminister der Ukraine zwischen 2010 und 2012, wird man in Wirklichkeit aber eine vorsichtige Strategie wählen müssen. “Hauptaufgabe ist heute, eine solche Formel zur Beendigung des militärischen Konflikts zu finden, die unseren langfristigen Interessen gerecht wird. Das ist ohne eine Beteiligung Russlands unmöglich. Es ist schwierig, eine Formel anzubieten, mit der alle zufrieden wären. Aber wir müssen verstehen, dass es wichtig ist, die Probleme zu lösen, die die größte Gefahr für die wirtschaftliche Stabilität und den Fortschritt in der Ukraine darstellen. Nur das ermöglicht es, den Weg der Reformen fortzusetzen und eine demokratische Gesellschaft aufzubauen”, sagte er. Die größte Herausforderung sei, wie man das mache. Hryschtschenko betonte, er halte es für notwendig, einen gewissen Kontakt zu Russland aufrechtzuerhalten, allein um in der Lage zu sein, irgendwie auf die Haltung der russischen Führung Einfluss zu nehmen.
Innenpolitik der Ukraine als Schlüssel zur Lösung externer Probleme
Wolodymyr Fedorin, ehemaliger Chefredakteur von Forbes Ukraine, wies auch darauf hin, “das Wichtigste, was die Ukraine machen kann, um langfristig stabile Beziehungen zu Russland aufzubauen, ist einen eigenen starken Staat zu errichten”. Grundlage für Soft Power in den Beziehungen zu Russland sollten zum einen radikale Reformen sein, und zum anderen die Stärkung der Verteidigungsfähigkeit. Auch sollten die Vorteile der eigenen Position als “Frontstaat” der westlichen Welt genutzt werden. “Die Ukraine könnte durchaus in der westlichen Welt führend werden, was die Analyse der Entwicklungen in Russland angeht. Dies erfordert nur eine richtige Koordinierung von Projekten und Institutionen. Dann könnten die westlichen Verbündeten begreifen, dass die Ukraine nicht nur im eigenen Interesse handelt, sondern auch bereit ist, qualitativ hochwertige Analysen zu liefern”, so Fedorin.
Aktives Vorgehen mit den westlichen Partnern
Die Experten waren sich darin einig, dass die Ukraine eine entschiedenere und aktivere Haltung auf internationaler Ebene einnehmen sollte, um eine Unterstützung der internationalen Gemeinschaft zu gewährleisten und die Sanktionen gegen Russland fortzusetzen. Dies sei besonders wichtig im Hinblick auf die zunehmende pro-russische Stimmung in Europa. “Wenn man uns heute in Washington, Paris und Berlin nicht hört, dann ist es unwahrscheinlich, dass wir die Situation mit Bemühungen der Zivilgesellschaft werden ändern können. Es ist notwendig, die Haltung der Ukraine konsequenter durch diejenigen klarzumachen, die sie artikulieren können, auf eine Weise, dass das westliche Publikum sie auch wahrnimmt”, sagte Kostjantyn Hryschtschenko.
Welche Zukunft hat Minsk?
Was die Aussichten der Minsker Vereinbarungen angeht, waren sich die Experten nicht einig. Nach Ansicht von Wolodymyr Ohrysko sollte man nicht hoffen, dass eine politische Regelung des Konflikts im Rahmen von Minsk oder im Normandie-Format gefunden wird. Die letzten zwei Jahre hätten gezeigt, dass internationale Verträge und Institutionen nicht in der Lage gewesen seien, auf diese Herausforderungen zu reagieren.
Kostjantyn Hryschtschenko meint, dass das Minsk-Format immer noch helfen könne, die Kampfhandlungen zu stoppen und den Dialog über die Umsetzung der Vereinbarungen in die Praxis überzuleiten: “Man muss ablehnen, was unsere Zukunft bedroht. Aber zugleich muss man Formeln anbieten, die man irgendwann anwenden könnte, mit der Aussicht auf ein Ergebnis im rechtlichen Rahmen der Ukraine.”
Olesja Jachno sagte, das Minsk-Format habe durchaus ermöglicht, das sogenannte “Neurussland” zu stoppen. Heute sei es zumindest noch eine Diskussionsplattform. Ihrer Meinung nach kann “nur eine Kombination aus verschiedenen Plattformen eine Eindämmung Russlands ermöglichen”, und diese Plattformen seien Minsk, aber auch möglicherweise Genf. Nötig sei zudem wirtschaftlicher Druck auf Russland mittels Sanktionen sowie Reformen und eine Stärkung der Verteidigungsfähigkeit der Ukraine.