Der Strategie einer “Deokkupation” der von Russland annektierten ukrainischen Halbinsel Krim und der vorübergehend besetzten Gebiete im ostukrainischen Donbass müsse auf einem Dialog beruhen. Kiew müsse vor allem den Menschen in jenen Gebieten aufzeigen, welche Perspektiven ihnen die Ukraine biete. Doch dies werde ein schwieriger und langwieriger Prozess werden, betonten Beobachter während einer Diskussionsrunde im Ukraine Crisis Media Center.
Nach Einschätzung von Experten bieten die Erfahrung in aller Welt der Ukraine keine “fertigen Rezepte”. “Wir haben in diesen Gebieten gleichzeitig eine Okkupation und einen Bürger-Konflikt, zwei miteinander verknüpfte Entwicklungen”, sagte Oleksij Panitsch, Mitglied im Aufsichtsrat der staatlichen Rundfunkgesellschaft der Ukraine. Der Kulturwissenschaftler betonte, es sei sehr schwer vorherzusehen, wie sich die Lage im Donbass und in Russland entwickeln werde. Deswegen müsse man sich in der Ukraine auf alle möglichen Szenarien vorbereiten. “Auf jeden Fall müssen wir den Menschen einen neuen Gesellschaftsvertrag anbieten: dass dies eine neue Ukraine ist, nicht die vor dem Maidan und der Okkupation; dass dies ein anderer Staat ist, in dem eine neue Nation aus Bürgern geschaffen wird, beruhend auf anderen Grundsätzen, wo völlig andere rechtliche Rahmenbedingungen bestehen”, sagte Panitsch.
Der beste Weg, die Menschen in den vorübergehend besetzten Gebieten davon zu überzeugen, dass die Ukraine ihnen würdige Perspektiven bietet, sind reale und qualitative Veränderungen in den freien Gebieten der Ukraine. Das sagte während der Diskussionsrunde Tatjana Durnjewa. Sie leitet die Abteilung der gesellschaftlichen Organisation “Wähler-Komitee der Ukraine” im Gebiet Donezk. Ihr zufolge sind die Binnenflüchtlinge heute das wichtigste “Bindeglied” zwischen denen, die in den besetzten Gebieten geblieben sind, und dem Rest des Landes. Deswegen sollte der Staat mehr auf die vielen Probleme achten, die nach wie vor ungelöst seien. “Wir brauchen einen Fahrplan. Denn in den vergangenen 2,5 Jahren hat sich in den besetzten Gebieten die Wahrnehmung der Realität verändert”, sagte Durnjewa.
Die Stimmung im Donbass
Laut einer Studie des Forschungszentrums “Denk-Fabrik Donbass” betrachten sich inzwischen 18 Prozent der Menschen in den vorübergehend besetzten Gebieten als “Bürger der Donezker Volksrepublik”. Ende 2014 hatte das fast noch niemand getan. 28 Prozent fürchten heute eine Wiedereingliederung in die Ukraine. Das berichtete Dmytro Tkatschenko, Leiter der “Denk-Fabrik Donbass”.
Ihm zufolge kann man die Menschen im Donbass ihren politischen Ansichten nach in vier Gruppen teilen: aktive pro-ukrainische Haltung, mehr oder weniger pro-ukrainische Konformisten, Anhänger der sowjetischen Vergangenheit und Anhänger der sogenannten “russischen Welt”. Tkatschenko ist überzeugt, dass mit Informations- und Bildungsmaßnahmen Voraussetzungen für eine “Deokkupation” geschaffen werden müssten. Dabei sollte man an jede oben genannte Gruppe mit unterschiedlichen Botschaften herantreten. “Wir müssen ihnen eine Antwort auf die Frage geben, wie es weitergehen soll”, betonte Tkatschenko.
Erste Schritte zur Einheit
Olena Malenkowa, Beraterin des Parlaments-Ausschusses für Sozialpolitik, Beschäftigung und Renten, sagte, nach dem Konflikt müsse die Frage der Restitution und Wiedergutmachung angegangen werden. Denn es gebe zahlreiche Fälle von Unterschlagung von Besitz und Vermögen, sogar ganzer Unternehmen privater Personen. Komplette Fabriken seien nach Russland abtransportiert worden.
“Um Frieden und Einheit wiederherzustellen, ist es auch wichtig, dass die Menschen im Donbass von der ukrainischen Gesellschaft nicht als Verräter gebrandmarkt und nicht kollektiv dafür verantwortlich gemacht werden, was geschehen ist”, sagte Malenkowa. Sie betonte, die russische Aggression wäre nicht möglich gewesen, wenn dafür kein Boden bereitet worden wäre. Seit Mitte der 90er Jahre bis zur Revolution der Würde 2013/2014 sei der Donbass von nur einem oligarchischen Clans beherrscht worden. Kiew habe sich um die Entwicklung der Region nicht gekümmert. Parallel seine Ängste vor einer gewaltsamen Ukrainisierung unter der vorwiegend russischsprachigen Bevölkerung geschürt worden.
“Eine Amnestie wäre sehr gut”
Olena Stjaschkina, die sich als Freiwillige in der Bewegung “Deokkupation, Rückführung, Bildung” engagiert, betonte, dass in den vorübergehend besetzten Gebieten nach wie vor viele Menschen auf eine Rückkehr der Ukraine warten würden. Gerade aus der Mitte dieser Menschen sei die Bitte entstanden, die Möglichkeit vorzusehen, vor Gericht beweisen zu können, dass sie keine Schuld bezüglich der pseudo-separatistischen Unruhen treffe. “Eine Amnestie wäre sehr gut, das verlangen auch die Minsker Vereinbarungen. Aber im Paket mit der Amnestie brauchen wir vielleicht noch ein Gesetz über die Kollaboration, das diejenigen entlastet, die unschuldig sind, und für diejenigen klare Strafen vorsieht, die bestraft werden müssen”, sagte sie.
Olesja Zybulko, Beraterin des Ministers für die vorübergehend besetzten Gebiete, sagte in diesem Zusammenhang, man sollte anstelle des Begriffs “Okkupation” den UN-Begriff “Friedenskonsolidierung” verwenden. “Dieser Begriff ist den Menschen lieber, weil er ausschließt, dass Menschen deswegen verfolgt werden, nur weil sie in den besetzten Gebieten geblieben sind. Er unterstreicht, dass wir nicht in einem Krieg gegen die eigenen Bürgern sind, sondern ausschließlich gegen die bewaffneten Gruppierungen, die sich auf dem Territorium der Ukraine befinden”, erläuterte Zybulko.
Die wichtigsten Akteure des Wandels
Die Hauptrolle bei der Förderung des Dialogs müssen Initiativen von unten ergreifen, vor allem junge Menschen und die Binnenflüchtlinge. Dies ist auch bereits im Gange. Eines der positivsten Beispiele dafür war das Festival “Aus dem Land in die Ukraine”, bei dem die Menschen motiviert wurden, etwas für ihre Gemeinde zu tun. Maria Podybajewa, der Leiterin der gesellschaftlichen Organisation “Neues Mariupol”, zufolge ist es sehr wichtig, mit verschiedenen Aktionen deutlich zu machen, dass die ukrainische Gesellschaft anderen Ethnien, Sprachen und Religionen gegenüber tolerant ist. Dies fördere die Einheit der Gesellschaft.
Nach Ansicht von Larisa Artjuhina, der Leiterin der gesellschaftlichen Organisation “Neuer Donbass”, muss der Dialog zunächst bei den Kindern beginnen. Freiwillige hätte selbst gesehen, dass so viel schneller Misstrauen und Klischees bei deren Eltern überwunden werden können. Darüber hinaus können wiederhergestellte Schulen zu den Orten werden, wo die Menschen wieder zusammenfinden werden. Artjuhina sprach sich dafür aus, dass das Ministerium für die vorübergehend besetzten Gebiete regelmäßig Runde Tische organisiert, um so die Bemühungen des Staates und der Freiwilligen-Bewegung zu koordinieren.