Die Schießerei an einer Berufsschule in Kertsch am 17. Oktober, bei der 21 Menschen getötet und über 50 verletzt wurden, lenkte die Aufmerksamkeit der internationalen Presse auf die Krim. Haben die Ukrainer den Amoklauf auf der von Russland annektierten Halbinsel als eine “ukrainische Tragödie” wahrgenommen? Wie berichten die russischen Medien? Einzelheiten vom Ukraine Crisis Media Center:
Meinungsforscher versichern, dass die Ukrainer die Krim weiterhin als ukrainisches Territorium betrachten: trotz der Annexion durch Russland vor vier Jahren, trotz der unterbrochenen Eisenbahnverbindungen und trotz des Abbruchs der Wirtschaftsbeziehungen.
Laut einer Umfrage der Ilko-Kutscheriw-Stiftung “Demokratische Initiativen”, die gemeinsam mit dem Kiewer Rasumkow-Forschungszentrum zwischen dem 16. und 22. August 2018 durchgeführt wurde, meint die Mehrheit (69 Prozent) der ukrainischen Bevölkerung, dass die Krim Teil der Ukraine bleiben soll. Die Krim als separates staatliches Gebilde würden 12 Prozent unterstützen und eine Zugehörigkeit zu Russland würden 4 Prozent akzeptieren. Die Ukrainer glauben, die Krim könnte nach einem Machtwechsel in Russland (39 Prozent), durch die Verstärkung der Sanktionen gegen Russland (32 Prozent) und nach einer Verbesserung des Lebensstandards in der Ukraine selbst (31 Prozent) zur Ukraine zurückkehren. Nur 10 Prozent treten für eine gewaltsame Wiedereingliederung der Krim ein. Im Mai 2016 waren es noch 14 Prozent. Insgesamt halten 48 Prozent eine Rückkehr der Krim für realistisch und 36 Prozent glauben nicht daran. Gleichzeitig halten nur 5 Prozent eine Rückkehr in naher Zukunft für möglich.
Trauer nach dem Amoklauf
Die Reaktion der ukrainischen Öffentlichkeit und der der Medien auf die Tragödie in Kertsch haben gezeigt, dass die Ukrainer den Amoklauf an der Schule nicht als ein “ukrainisches Problem” wahrnehmen. Eine der am meisten diskutierten Fragen nach der Tragödie in Kertsch war, ob in der Ukraine als Zeichen der Solidarität landesweite Trauer angeordnet werden sollte. Trotz der Debatten in sozialen Netzwerken und einiger öffentlicher Initiativen zum Gedenken an die Opfer in Kertsch wurde in der Ukraine keine offizielle Trauer angeordnet. “Die Tragödie ist so gewaltig und furchtbar, dass sie Anlass für eine landesweite Trauer hätte sein können. Einerseits hätte diese Trauer ein Akt emotionaler Solidarität mit den ukrainischen Bürgern sein können, die gezwungen sind, auf dem Territorium der annektierten Krim zu leben. Und andererseits wäre das ein klares Signal an die gesamte zivilisierte Welt gewesen, dass die Ukraine an ihre 2,5 Millionen Bürger denkt”, sagte der Journalist Pawlo Kasarin dem ukrainischen TV-Magazin “Krym.Realii”.
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“Columbine-Begeisterung” als russische Subkultur
Dass die Ukrainer die Schießerei an der Schule in Kertsch nicht als ein “ukrainisches Problem”empfunden haben, zeigt auch die fehlende Angst und die fehlende landesweite Diskussion, was die Sicherheit an ukrainischen Schulen angeht. Eine solche Tragödie hat die Ukraine bisher noch nie erlebt, während es in Russland schon eine ganze Reihe solcher Fälle gab.
Das erste “School Shooting” in Russland ereignete sich am 3. Februar 2014. Damals erschoss ein Schüler einen Lehrer und hielt seine Klassenkameraden etwa eine Stunde lang fest. Dann eröffnete er das Feuer auf die Polizei. Dabei wurde ein Polizist getötet. Der Vater des Tätern konnte ihn schließlich zum Aufgeben überreden. Allein zwischen 2017 und 2018 wurden in Russland mindestens 15 solcher Schießereien und sieben Attacken mit spitzen Gegenständen registriert. Insgesamt starben dabei drei Schüler, zwei Lehrer und ein Polizist.
Im Januar 2018 veröffentlichte die russische Zeitung “Snob”einen Artikel über die “Columbine-Subkultur”unter Jugendlichen in Russland. “In Russland gibt es mindestens 30.000 ‘Columbiner'”, so die Zeitung. In russischen sozialen Netzwerken gebe es zahlreiche entsprechende Gruppen, die bis zu 4000 Mitglieder hätten. Doch nicht alle “Columbiner” seien potentielle Killer. Die meisten würden sich einfach nur für “verbotene Themen” interessieren. An der Columbine High School im US-Bundesstaat Colorado kam es am 20. April 1999 zu einem Amoklauf. Dabei wurden von zwei Schülern der Abschlussklasse zwölf Schüler sowie ein Lehrer erschossen und 21 Menschen verwundet. Die Täter töteten sich anschließend selbst. Der nach der Tat weltweit zu verzeichnende Anstieg an Schulschießereien wird oft als “Columbine-Effekt”bezeichnet.
“Globalisierung” oder “Militarisierung”?
Während der russische Präsident Wladimir Putin die “Globalisierung” für die Tragödie in Kertsch verantwortlich macht, herrscht in der Ukraine die Meinung vor, dass wenn die Krim 2014 nicht von Russland annektiert worden wäre, es nicht zu der Schießerei gekommen wäre. Gemäß den russischen Gesetzen durfte der Täter, der 18-jährige Wladislaw Rosljakow, sofort nach Erreichen der Volljährigkeit im Besitz einer Waffe sein. In der Ukraine sind die Gesetze hingegen strenger. Die Ukrainer dürfen erst ab einem Alter von 21 Jahren Waffen besitzen – und das nur zur Jagd.
Außerdem könnte die allgemeine Militarisierung der Halbinsel nach der Annexion, die Präsenz von Militär und Waffen eine Rolle gespielt haben. “Niemand ist heute vor solchen Tragödien sicher”, sagte Oleksij Haran gegenüber dem TV-Magazin “Krym.Realii”. Dem Professor der Kiewer Mohyla-Akademie können solche Schießereien in jedem Land passieren. “Aber die Atmosphäre, die jetzt in Russland herrscht, diese ‘Wagenburgmentalität’, wo man sich von allen bedroht sieht und sich gegen alle verteidigen muss, gerade das führt zur Militarisierung, zu Hass auf Nachbarn, auf andere Völker und Religionen”, so Haran. Er kritisiert, dass in Russland Kinder von klein auf mit Militärparaden erzogen werden, auf denen sie mit Waffen marschieren. All das schaffe eine entsprechende Atmosphäre.
Zweifel an Untersuchungen und Manipulationen in den Medien
Aufgrund einer fehlenden unabhängigen Untersuchung unter Einbeziehung internationaler Fachleute bestehen Zweifel an den Untersuchungen der russischen Behörden und deren Ergebnissen. Das vom Fernsehsender “Vesti.Krym” veröffentlichte Video einer Überwachungskamera der Schule wirft eine Menge Fragen auf. Es wurde nur wenige Stunden später ohne Angaben gelöscht.
Skandalös war auch ein Vorfall beim staatlichen russischen TV-Kanal “Rossija 1”. In einer Sondersendung wurde ein Telefoninterview mit einer Schülerin namens Alina Kerowa geführt. Sie wurde als Überlebende und als Zeugin des Amoklaufs vorgestellt und befragt. Später fand jedoch eine Journalistin des russischen Senders “Doschd” heraus, dass die Schülerin zu den Todesopfern zählt und zum Zeitpunkt des “Interviews” bereits tot war.