Der Dekommunisierungsprozess geht wie selbstverständlich in eine Dekolonisierung über

Historiker, Soziologen und Beamte des Kiewer Stadtrats nannten den Dekommunisierungsprozess während einer Podiumsdiskussion eine natürliche Dekolonisierung. Die Experten analysierten die Entstehung von neuen Namen in den Städten, sowie den Einfluss dieses Umbenennungsprozesses auf die Öffentlichkeit und die „Schlacht“ zwischen historischen und ideologischen Bezeichnungen, sowie Vorschlägen, die von der Öffentlichkeit und „von oben“ kommen

Kiew, 2. August 2016 – Die Dekommunisierung, insbesondere die Umbenennung von städtischen Objekten, ist nicht nur eine äußerliche Erscheinung, sondern faktisch ein sehr sozialer Prozess, wodurch sich die Beziehung der Ukrainer zur sowjetischen Vergangenheit zeigt, sowie zur aktuellen politischen Situation. Außerdem weist es auf das Niveau ihres politischen Bewusstseins hin und einer Nachfrage nach der Festigung der nationalen Identität durch Symbole im öffentlichen Raum. Während der Diskussion im Ukraine Crisis Media Center besprachen die Experten erste Ergebnisse und wesentliche Tendenzen, sowie Probleme und Herausforderungen beim Dekommunisierungsprozess.

Die Dekolonisierung ist eine natürliche Folge der Dekommunisierung

Eine der bemerkenswertesten Tendenzen bei den Vorschlägen zur Umbenennung ist der Versuch, die Ukraine nicht nur durch Namen, sondern auch geographisch von einem riesigen Imperium zu trennen, an das das Land symbolisch „gebunden“ war. Damit ist der Prozess viel weitgehender als die eigentliche Dekommunisierung, meinten die Experten.

„Die symbolische Stadtkarte deutet eigentlich an, wo das echte Zentrum sitzt. Daher liegt das Niveau der Neutralität bei der Namensgebung weit von einer Null entfernt. Eine Nuance der Dekommunisierung ist die Umsetzung des Appells von Chwylewij: „Weg von Moskau, hin zu Europa!“, sagte Ludmila Males, Direktorin für Soziologie und Dozentin an der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität Kiew.

„Man kann nicht nur über die Umbenennung im Rahmen der Dekommunisierung sprechen, sondern muss auch den bedeutend tieferen Prozess der Dekolonisierung sehen. Dieser Prozess ist bereits im Gange und er darf und kann nicht aufgehalten werden. Das Einzige, was sowohl bei der Dekommunisierung, als auch bei der Dekolonisierung besonders wichtig ist, dass man bei den Varianten direkt miteinander spricht“, sagte Wladislaw Osmak, Leiter des Zentrums für urbane Untersuchungen an der Nationaluniversität „Kiew-Mohyla-Akademie“.

Wie die neuen Namen für Straßen gebildet werden

Derzeit überwiegen bei den Vorschlägen für die Umbenennung von Kiewer Straßen Namen zu Ehren von Personen der nationalen Freiheitsbewegung, sowie Namen aus Religion und Literatur, sagte Ludmila Males. Allerdings wird insgesamt versucht, Namen zu Ehren von historisch neutralen Personen zu verwenden.

„Allerdings befremden die klar ideologischen Namen die Leute, die dort wohnen. In gewisser Weise ist es eine Einmischung in ihren persönlichen Raum, was Unbehagen hervorrufen kann“, meinte Warwara Podnos, Analytikerin in der Abteilung für Stadtentwicklung beim Analysezentrum CEDOS.

Sie ergänzte, dass von 222 umbenannten Straßen in Charkiw nur 23 neutrale Namen erhielten. Sicher, viele neue Namen sind mit Personen aus der Kultur verbunden, die in Charkiw wirkten.

Ideologische Namen „von oben“ als Nebeneffekt der Umbenennung

In Kiew wird eine ähnliche Tendenz mit dem Vorherrschen von ideologisch gefärbten Namen verfolgt, wobei sich „Kiew hinter der Hauptstadt“ versteckt, sagte Wladislaw Osmak. So wurde zum Beispiel der Moskauer Prospekt letztlich zu Ehren von Stepan Bandera umbenannt, aber nicht zu Ehren von Bohdan Stupka, obwohl dieser Name stärker mit der Stadt verbunden ist.

„Auf die Frage, wie eine Person mit Kiew verbunden sei, hören wir oft, dass Kiew die Hauptstadt ist“, sagte Michail Kalnizkij, Forscher der Kiewer Geschichte und Mitglied der Kommission zu Fragen der Namensgebung.

Gleichzeitig, so Alexej Kurinnyj, Experte am Zentrum zum internationalen Schutz für Menschenrechte an der Nationaluniversität „Kiew-Mohyla-Akademie“, würden die Menschen bei Abstimmungen eher historische statt politisierende Namen bevorzugen.

„Die Kiewer unterscheiden klar, wo es um Dekommunisierung geht und wo versucht wird, ein „Schaufenster“ zu errichten. Im letzteren Fall misslingen solche Abstimmungen oft“, sagte er. „So zum Beispiel bei Vorschlägen, Straßen zu Ehren von Boris Nemzow oder Oleg Senzow umzunennen. Dies fand keine breite Unterstützung.“

Ein hartes Problem bleibt bisher der Ausgleich zwischen „ideologischer Schlacht“ und gemäßigter Umbenennung, damit die eine oder andere öffentliche Gruppe nicht verärgert ist. Wladislaw Osmak meinte, dass die forcierte „Nationalisierung“ durch zwangsweise Anbringung von Personennamen im öffentlichen Raum, zu denen die Öffentlichkeit gespalten steht, dem Prozess zur Schaffung einer nationalen Identität eher schadet. Dieser Prozess ist immer noch im Gange.

Mechanismen zur Beteiligung der Öffentlichkeit während der Umbenennung und deren Mängel

Die Umbenennungen sind nicht weisungsgebunden. Bei jeder Initiative gibt es eine öffentliche Anhörung, eine Begutachtung durch eine Kommission und dann eine Abstimmung im Stadtrat.

„Bisher erhielt keine einzige Petition, die mit der Umbenennung von Straßen verbunden war, innerhalb von 3 Monaten über 10.000 Unterschriften. Wenn eine Umbenennung oder ein Vorschlag unangemessen ist, sind wir dafür auch verantwortlich. Wenn ich sehe, dass eine Petition ein paar hundert bis ein paar tausend Unterschriften bekommt, wird sie als offizieller Appell der Bürger an die Kommission zur Umbenennung weitergereicht und sie prüfen, inwieweit dies begründet ist“, sagte Jaroslaw Schibanow.

Lew Schewtschenko, Architekturprüfer und Journalist, sagte ebenfalls, dass Petitionen derzeit kein Repräsentativinstrument sind. Die Leute wissen bei weitem nicht immer von einer Abstimmung und ein bedeutender Teil, der sich dafür interessiert, weiß nicht, wie man elektronisch seine Stimme abgibt. Außerdem gab es bereits Versuche, dieses Instrument zu missbrauchen. Die Kiewer Stadtverwaltung fragt deshalb beim technischen Dienst nach, damit über Manipulationen berichtet wird. Die Frage, ob es das beste Instrument ist, damit die Öffentlichkeit ihre Meinung äußerst, bleibt offen.