Die Dekommunisierung bedeutet ein tiefes Umdenken der kollektiven Geschichte, des kollektiven und individuellen Gedächtnisses sowie der Identität – Experten

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Kiew, 24. Februar 2016 – Der Dekommunisierungsprozess in der Ukraine begann spontan während Revolution der Würde und setzte sich nach dem jeweiligen Gesetzesabschluss fort. Dieser Prozess ist sehr schmerzhaft und stellt die Gesellschaft vor einer Reihe der Herausforderungen. „Die große Epoche geht zu Ende, langsam und schwer. Wir sind uns bewusst, dass diese Änderungen notwendig sind, und sind keinesfalls gegen diese notwendigen Gesetzte. Wir wollen allerdings darauf hinweisen, dass die Eile manchmal gefährlich ist, denn es gibt tiefere Dinge, die bei weitem nicht offensichtlich sind“ – erklärte Wladyslawa Osmak, Leiterin des Zentrums für Stadtstudien an der Nationalen Universität Kiew-Mohyla-Akademie, bei der Eröffnung der öffentlichen Diskussion im Ukrainischen Crisis Media Center zum Thema „Dekommunisierung: Denkmalkrieg“. Die Fragen der kollektiven Geschichte, des kollektiven und individuellen Gedächtnisses sowie der Identität rufen die Debatten um Dezentralisierung hervor.

Die moderne Ukraine stoße auf erste Herausforderungen: welche Denkmäler auf den Sockeln der kommunistischen Führer zu errichten und ob sie überhaupt errichtet werden müssen. Switlana Schliptschenko, Leiterin der wissenschaftlichen Programme des Zentrums für Stadtstudien an der Nationalen Universität Kiew-Mohyla-Akademie, wies darauf hin, dass „der Denkmalkrieg“ während der historischen Veränderungen unvermeidlich ist, denn ein Denkmal dient zu allen Zeiten vor allem als Propagandamittel, Etablierung bestimmten Wertesystems sowie symbolisches Landmarkzeichen. Die Änderung der vorherrschenden Ideologie brachte unbedingt die „Vernichtung der Götzen“ der vorherigen Epoche mit. Als Beispiele kann man den Europäischen Platz in Kiew nennen, wo Alexander II, ein Rotarmist, Stalin sowie eine Treppe im Laufe von 100 Jahren einander ablösten – die Treppe wurde dann aber auch abmontiert, und ein weiteres Denkmal blieb aus. Die Unabhängigkeit der Ukraine gab auch den Anstoß zum Austausch der Denkmäler. Der landesweite Fortschritt dieses Prozesses zeigte die Selbstidentifikation der Bewohner dieser Gebiete ausdrucksvoll: im Westen der Ukraine wurden die sowjetischen Denkmäler bereits in den 90er Jahren demontiert, im Zentrum – während der Präsidentschaft von Wiktor Juschtschenko, und in den restlichen Gebieten wurde dieser Prozess erst 2014 „durch aktive Minderheit unter passiver Nichtbeachtung/Missbilligung der Mehrheit“ intensiv eingesetzt. „Vergleichen wir die Karten der Wählerpräferenz mit den Lokalwahlenergebnissen, dann sehen wir, dass genau diese Regionen für die pro-russischen oppositionellen Parteien ihre Stimme abgegeben haben. […] Es ist sehr symbolisch, dass die Denkmäler fast an gleichen Tagen sowohl in Schytomyr und Tschernihiw, […] als auch in Dnipropetrowsk und Cherson abgerissen wurden. Dadurch entstand eine Dimension der Einheit, die Wählergrenze von 2004 verschwand“ – meinte Oleksij Kurinnyj, Cheflektor am Lehrstuhl für internationales Recht an der Nationalen Universität Kiew-Mohyla-Akademie, Experte des Zentrums für internationalen Menschenrechtschutz. „Zweifelsohne wies dieser Prozess den Kampf gegen Identitätsmerkmale auf – in keinem Fall gegen Kultur. […] Er symbolisiert die mentale Trennung von der sowjetischen Mentalität, von der Möglichkeit, in die „russische Welt“ gezerrt zu werden“ – versicherte der Experte. „Ich würde die heutige Situation als Götzen-Dämmerung nach Nietzsche bezeichnen“ – erklärte Switlana Schliptschenko. Die Diskussionen um den Dekommunisierungsprozess weisen in der Tat „ein Gedächtnis im Kriegszustand“ auf – im Krieg hinsichtlich dessen, wie die Gesellschaft das Gedächtnis über die Vergangenheit aufrechterhalten will.

Die Experten glauben, dass das größte Problem darin besteht, ob die ukrainische Gesellschaft die Dekommunisierung eigentlich durchführen kann, ohne bei den neuen Denkmälern den Monometallismus der Reichsvergangenheit sowie die Traditionen des sozialistischen Realismus zu wiederholen. Anhand vieler Denkmalentwürfe der Unabhängigkeitsperiode ist erkennbar: „angeblich gibt es eine neue Ideologie mit neuem Inhalt, aber die Künstler wollen sie in absolut alte Formen gießen“ – betont Osmak. Ein drastisches Beispiel solcher Nachahmung ist unrealisiertes Projekt am Maidan um das Unabhängigkeitsdenkmal, ein massives Andrij-Scheptyzkyj-Denkmal in Lwiw, das trotz Willen der Öffentlichkeit an dem Ort, wo Andrij Sheptyzkyj Bäume pflanzte, errichtet wurde, sowie geschmackloses Himmlische-Hundertschaft-Denkmal in Lutsk. „Inwieweit überwanden wir dieses Klischeedenken, wenn wir es uns erlauben, solche Kunstformen zu vervielfältigen, wenn es um die modernste und schmerzhafteste Etappe unserer Geschichte geht?“ – fragtу Wladyslawa Osmak. „Die moderne Gesellschaft kann nicht von den Denkmalformen sprechen, die es früher gab. Die Mittel, Andenken zu verewigen, sollen der modernen Gesellschaft entsprechen. […] Demokratische Gesellschaft bietet dynamischere und keine erstarrte Formen an“ – betonte Oksana Barschynowa, Kunstwissenschaftlerin, Leiterin der Forschungsabteilung für Kunst des XX. – Anfang XXI. Jahrhunderts im Nationalen Kunstmuseum der Ukraine.

Die zweite Herausforderung besteht darin, eine Trennlinie zwischen einem Denkmal (mit der oben erwähnten symbolischen Bedeutung) und einem Bau- bzw. Kulturdenkmal zu ziehen, weil solche Objekte des historischen Erbes über eine Reihe der Kunstcharakteristika verfügen, die für eine bestimmte Epoche kennzeichnend sind. Das Gesetz bestimmt, dass ausschließlich Denkmäler für sowjetische Funktionäre sowie sowjetische Symbolik aus dem öffentlichen Raum geräumt werden müssen, d.h. abgerissen oder musealisiert. „Wenn man sagt, dass alles sowjetische vernichtet werden soll – das ist objektiv falsch. Wenn man sagt, dass sozialistischer Realismus als eine Richtung, Stil, Erscheinung ausgerottet werden soll, ist ebenfalls falsch“ – betonte Alina Schpak, erste stellvertretende Leiterin des Ukrainischen Institutes für nationales Andenken. Gleichzeitig ist diese Trennlinie zwischen einem Denkmal und einem Bau- bzw. Kulturdenkmal nicht eindeutig. „Wir müssen klar klassifizieren, was abgerissen werden soll und was Gemeinde und Experten entscheiden“ – betonte Oksana Barschynowa. Rücksichtslose Ausführung dieses Gesetzes im sowjetischen Sinne einer „totalen Säuberung“ sorgt für die Gefahr, dass die Kunstdenkmäler, die nur teilweise unter dieses Gesetz fallen, sowie die Stadtkultur zerstört werden. Solche Denkmäler, wie zum Beispiel Schtschors-Denkmal auf dem Taras-Schewtschenko-Boulevard in Kiew, sind nicht nur ein wertvolles Kunstobjekt, sondern auch ein wichtiger Bestandteil des Architekturensembles. „In diesem Fall ist es notwendig, den Akzent von der dargestellten Person zu verlegen und zeigen, auf welche Weise das dargestellt wurde“ – betonte Barschynowa.

Diskussionsträchtig ist auch die Frage, was mit den Ehrenmalen für die im zweiten Weltkrieg Gefallenen zu tun: das Gesetzt erstreckt sich darauf nicht, aber „diese Ehrenmale sind nicht immer das, was sie zeigen sollten: statt Opfer zu würdigen, glorifizieren sie den siegesreichen Krieg“ – erklärte Alina Schpak. Bislang ist die Frage noch offen.

Eine Variante der Dekommunisierung kann das Umdenken und Neuanwendung des sowjetischen Erbes sein – Mosaiken, Kunstobjekte und Räumlichkeiten. „Wir sind daran überzeugt, dass Dekommunisierung die Möglichkeit gibt, die Geschichte eigener Familie durch Archivöffnung zu untersuchen, ein neues Bild der Heimatstadt mitzuprägen“ – sagte Olha Hontschar, Kulturologin, Assistentin der Fachrichtung Kunst im Ukrainischen Crisis Media Center. Sie wies darauf hin, dass die Künstler solche Methode des künstlerischen Umdenkens während der Veranstaltungen in Winnyzja, Slowjanks, Sjewjerodonezk und Mariupol bereits erfolgreich angewandt haben. Diese „Kunstlandung“ stellte die Möglichkeit einer breiten öffentlichen Diskussion sicher und bestätigte die Annahmen der Künstler, dass Regionalspezifik bei der Ausführung dieses Gesetzes unbedingt berücksichtigt sein soll. „Die Dekommunisierung in den Front- sowie befreiten Gebieten ist eine sehr schmerzhafte Frage“ – betonte Olha Hontschar. „Man muss eine detaillierte Methodologie ausarbeiten, damit die Dekommunisierungsprozesse keinen neuen Konflikt herbeiführen“.

Die Experten wiesen außerdem darauf hin, dass es ca. 2,5 Tausend Lenin-Denkmal im Herbst 2013 gab. Während der Revolution der Würde wurden ca. 600 davon abgerissen, weitere Tausend – nach der Verabschiedung des Dekommunisierungsgesetzes. Darüber hinaus müssen auch ca. 1.000 Ortschaften gemäß diesem Gesetz umbenannt werden. 175 Ortschaften sind bereits umbenannt. Alina Schlapak wies darauf hin, dass man meistens zwischen der historischen Bezeichnung der Ortschaft und den von der Gemeinde vorgeschlagenen Varianten auswählte.

Gleichzeitig wiesen die Experten darauf hin, dass neben dem Bestreben, sowjetisches Erbe in der Vergangenheit zu lassen, entsteht die Vergangenheitsnostalgie als Teil des individuellen Gedächtnisses. Kleine symbolische Merkmale in den Bezeichnungen wie „Sowjetischer Sekt“, „Restaurant Katjuscha“ usw. belegen, dass sowjetische Epoche für einen beträchtlichen Teil der Gesellschaft noch wichtig ist, somit wird die bewusste „Trennung“ damit ziemlich langanhaltend.