Die Geschichte eines Ukrainers, der aus der Gefangenschaft der „Luhansker Volksrepublik“ frei kam

Am 17. September fand an der Brücke in der Stadt Schtschastja im Gebiet von Luhansk ein Gefangenenaustausch nach der Regel „zwei gegen vier“ statt. Die Separatisten ließen zwei Ukrainer frei: den Mitarbeiter der UN-Mission im Donbass, Jurij Suprun, und den ehemaligen Bergarbeiter aus Krasnyj Lutsch, Wolodymyr Schemtschugow.

Wolodymyr Schemtschugow war kein Soldat. Er geriet in Gefangenschaft, nachdem er in eine Sprengfalle trat. Durch die Explosion verlor er sein Augenlicht und beide Unterarme. Die prorussischen Milizen beschuldigten ihn, an Sabotageakten beteiligt gewesen zu sein, und wollten ihn trotz seines schlechten Gesundheitszustands nicht austauschen. Schemtschugow wurden beide Unterarme bis zum Ellenbogen amputiert. Ein Teil seines Darmtrakts wurde entfernt. Er ist beinahe blind. Bisher ist nicht sicher, ob er jemals wieder sehen kann.

Das Ukraine Crisis Media Center veröffentlicht eine gekürzte Version des Artikels aus der Onlineausgabe „Fakty“.

Russische Spuren im Leben

431bb97-13227051-1031016373649778-1342830450372576283-n-e1475005305196Die Familie von Schemtschugow stammt aus Krasnyj Lutsch im Gebiet von Luhansk. In seiner Jugend war Wolodymyr Schemtschugow Bergarbeiter und machte sich später selbständig. Dann zog er mit seiner Frau nach Georgien. 2008 erlebten sie dort den Georgienkrieg, der durch Russland ausgelöst wurde. Als er 2014 mit seiner Frau zurück zu seiner Mutter nach Krasnyj Lutsch kam, stand bereits die sogenannte Volkswehr an den Checkpoints.

„Ich hatte verstanden, dass ich nicht einfach nach Georgien zurück und so tun konnte, als ob nichts geschehen sei. Ich brachte meine Frau und meine Mutter nach Tiflis und kam in das Gebiet von Luhansk zurück.“

Bei den Partisanen

Schemtschugow sagte seiner Frau nicht, dass er sich den Partisanen anschloss. Er half den Lokalbewohnern, indem er sie aus dem besetzten Gebiet schleuste (Rentner, die nicht mehr reisen konnten) und für sie Nahrungsmittel oder Medikamente besorgte.

Auf einer seiner nächtlichen Touren trat er in der Nähe des Luhansker Flughafens auf eine Sprengfalle. Als er wieder zu sich kam, merkte er, dass er nicht mehr sehen konnte und dass er Blut verlor. Er hörte an der nahegelegenen Straße Fahrzeuge und kroch dorthin. Dabei wusste er, dass auf der Trasse in der Nacht LKWs mit Munition aus Russland nach Luhansk fahren. Er wollte auf keinen Fall gefangen genommen werden und kroch deshalb mit Absicht auf die Straße, damit ihn die LKWs überfahren.

Aber sein Plan ging nicht auf: die Fahrzeuge umfuhren ihn und bald war man hinter ihm her. Als man ihn erwischte, wurde er betäubt. Seine nächste Erinnerung war, dass er im Krankenhaus wieder zu sich kam. Dort hatte er bereits keine Unterarme mehr.

Im besetzten Krankenhaus: Verhöre und Umgang des medizinischen Personals

Schemtschugow wurde mehrfach operiert. Seine Sehkraft kehrte nicht wieder zurück. Aber ihm war bekannt, dass er 24 Stunden am Tag im Krankenzimmer bewacht wurde. Die prorussischen Freischärler wussten, dass er kein einfacher Einheimischer war. Sie wollten unbedingt einen Partisanen verhören. Deshalb bezahlten sie für die Behandlung, denn sie brauchten ihn lebendig.

Der Ukrainer wurde ständig verhört und psychisch unter Druck gesetzt. Er hatte nach der nächsten Narkose immer noch Brandwunden und Splitter. Aber die Freischärler hielten ihm die Pistole an den Kopf und besprachen, wo sie ihn vergraben wollten.

Die Verhöre wurden von einem Mann und einer Frau geführt. Die Frau war vom „Ministerium für Staatssicherheit der Luhansker Volksrepublik”.

„Als sie mir die Pistole an den Kopf hielt, fing ich an, laut zu beten und verabschiedete mich von meinen Verwandten. Und sie sagte: „Zum Teufel! Ich kann nicht schießen. Wenn Du einschläfst, bringen wir Dich um.“ Solche Psychoattacken wiederholten sich fünf, sechs Mal in der Nacht, ohne dass etwas geschah.“

Die Freischärler versuchten, Schemtschugow durch Gespräche über seine Familie zu brechen: sie drohten, dass sie sie finden und herbringen würden, um sie zu foltern, wenn er nicht spricht. Dann meinten sie, dass niemand „solche Behinderten“ braucht. Angeblich hätte seine Frau und die Ukraine ihn aufgegeben.

Mit der Zeit kamen auch russische Sonderdienste dazu. Das merkte man an ihren Fragen und dem Akzent. Dabei versuchten sie sich als Vertreter der „Luhansker Volkswehr“ vorzustellen. Aus irgendeinem Grund meinten sie, sie hätten fast einen Sonderagenten gefangen.

Im Fernsehen der „LVR“ wurde Schemtschugow als „internationaler Spion“ dargestellt. Als sie merkten, dass sie bei ihm damit nicht weiterkommen, begannen sie, ihm ein gewisses „Wahrheitsserum“ zu spritzen.

„Aber ich war mir dennoch bewusst genug, um zu verstehen, dass ich nichts sagen darf. Aber… ich sprach und konnte mich nicht kontrollieren. Ich hatte Angst, dass ich meine Kameraden verrate und hörte wieder auf. Ich biss in den Schlauch mit dem Serum und begann hineinzublasen, damit Luft in die Venen gerät, um dadurch zu sterben.“

Aber die Aktion wurde rechtzeitig vereitelt.

Der Abteilungsleiter gab zu verstehen, dass Schemtschugow nicht sterben darf und wenn doch, werden die Ärzte dafür bestraft. Insgesamt hatte das Personal gegenüber Schemtschugow eine positive Einstellung, weshalb er auch aufhörte.

Aber es gab auch andere Fälle. Zum Beispiel bei der Behandlung seiner Brandwunden. Am Abend tranken und „amüsierten sich“ die Sanitäter: sie kamen in das Krankenzimmer von Schemtschugow und fingen an, ihn zu stoßen, zu beleidigen und zu demütigen. Die „Wachleute“ unternahmen nichts. Sie standen in der Nähe und lachten.

Strafverfahren und Untersuchungshaft

Vor Neujahr kam eine Person, die sich Schemtschugow als Verteidiger vorstellte. Die „LVR“ eröffnete ein Strafverfahren und stellte Schemtschugow einen Anwalt. Die Freischärler wollten damit den Anschein von Rechtsstaatlichkeit erwecken. Über den Anwalt konnte er erstmals seit drei Monaten über Skype Kontakt zu seiner Frau aufnehmen. Zwar konnte er seine Frau nicht sehen, aber ihre Stimme hören. Zudem erführ er, was alles in der Zeit passierte und dass sie sich weiterhin für seine Freilassung einsetzt.

Ende Mai wurde Schemtschugow in ein Untersuchungsgefängnis verlegt. Zum ersten Mal seit acht Monaten konnte er bei einem Spaziergang frische Luft atmen. Er kam in die Krankenabteilung des Luhansker Gefängnisses, in eine Dreimann-Zelle. Die Zellengenossen sollten sich um ihn kümmern. Aber sie wechselten ständig. Es handelte sich hauptsächlich um Straftäter aus den untersten Gesellschaftsschichten.

Austausch

Eigentlich sollte der Gefangenenaustausch früher stattfinden, doch im letzten Moment wurde alles verworfen. Die Freischärler belogen die Parlamentsabgeordnete Iryna Heraschtschenko, dass Schemtschugow bereits bei seinen Verwandten sei.

„Ich wartete die ganze Zeit darauf, wann ich ausgetauscht werde, doch passierte nichts. Als ich am 16. September (2016) abends plötzlich gewaschen und rasiert wurde und saubere Kleider bekam, dachte ich erst, dass das eine weitere Provokation der Freischärler sei. Ich glaubte, sie wollten mir Hoffnung auf einen Austausch machen, der dann wieder doch nicht stattfindet.“

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Schemtschugow war davon überzeugt, dass er in ein anderes Untersuchungsgefängnis verlegt wird.

Den Austausch selbst konnte Schemtschugow nicht sehen, sondern nur hören. Eine Frau kam und wurde als Iryna vorgestellt. Aber der Ukrainer kannte die Stimme von Iryna Heraschtschenko nicht und wusste deshalb nicht, dass sie es war. Sogar in dem Moment, als die Leute ihm zur Freilassung gratulierten, schloss Schemtschugow nicht aus, dass das gespielt sei. Er glaubte es erst, als er die Stimme seiner Frau hörte.

Während des Austausches versuchte der Journalist Graham Phillips, der sich selbst als russischer Propagandist bezeichnet, Schemtschugow zu provozieren. Er beleidigte Schemtschugow und schrie: „Wer hat Dich zombiefiziert? Du bist einfach ein Zombie! Wer braucht Dich noch ohne Hände?“ Das wiederholte Phillips unzählige Male. „Meine Heimat braucht mich“, antwortete Schemtschugow. „Die Ukraine lässt die ihrigen nicht im Stich.“

Derzeit werden die Brüche von Wolodymyr Schemtschugow behandelt, sowie die Augen und Ohren. Und natürlich benötigt er Prothesen.

„Am meisten will ich daran glauben, dass das Leben weitergeht. Und dass, so schwer es auch war, sich alles ergibt und ich zu einem vollwertigen Leben zurückkehre“, sagte der Ukrainer.

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