Die meisten ukrainischen Beobachter sehen in dem Euromaidan 2013/2014 eine Revolution der Würde: für Demokratisierung und Europäisierung. Doch ihrer Ansicht nach sind die Ziele der Revolution bisher nur teilweise erreicht worden – am wenigsten im Kampf gegen die Korruption.
Dies geht aus einer Umfrage der Ilko-Kutscheriw-Stiftung “Demokratische Initiativen” hervor, die zwischen dem 11. und 18. November unter 69 ukrainischen Politik-Experten durchgeführt wurde. Das berichtete die Leiterin der Stiftung, Iryna Bekeschkina, bei der Eröffnung einer Diskussionsrunde im Ukraine Crisis Media Center, die dem dritten Jahrestag des Beginns der Revolution der Würde gewidmet war. Die Teilnehmer der Runde betonten, dass die Revolution eigentlich weitergehe. Der Maidan – das seien jetzt keine Menschen auf dem Platz der Unabhängigkeit in Kiew mehr. “Der Maidan hat sich in die Innenpolitik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Außenpolitik verlegt”, so Bekeschkina.
Was bisher erreicht wurde
Zu den erreichten Ziele gehören laut der überwiegenden Mehrheit der Experten: die Wiederherstellung der pro-europäischen Ausrichtung der ukrainischen Politik sowie die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommen mit der EU; der Sturz des Regimes von Präsident Wiktor Janukowytsch; ein teilweiser “Neustart” des Staatsapparats mit jungen Abgeordneten und Regierungsbeamten aus der Zivilgesellschaft und Wirtschaft; die Bekämpfung der Korruption auf höchster Ebene mit der Schaffung der Anti-Korruptionsbehörden NASK und NABU sowie mit der Anti-Korruptions-Staatsanwaltschaft; der Start der elektronischen Vermögenserklärung für Staatsbedienstete.
“Wenn westliche Experten die Veränderungen bewerten, sagen sie, dass es solche Reformen in der Ukraine noch nicht gegeben habe. Doch das Problem ist, dass jetzt erst der Grundstein zu institutionellen Veränderungen gelegt wird und deren Ergebnis die Menschen noch nicht schnell zu spüren bekommen werden”, sagte Oleksij Haran, wissenschaftlicher Leiter der Stiftung “Demokratische Initiativen”. Dem Politologen zufolge gehört zu den wichtigsten Errungenschaften des Maidan, dass die Ukraine zur Verfassung aus dem Jahr 2004 zurückgekehrt ist. Das verhindere die Errichtung eines autoritären Regimes.
Pawlo Kuchta, stellvertretender Leiter der strategischen Beratergruppe für Reformen beim Ministerkabinett der Ukraine, sagte, dass laut dem Index VoxUkraine in der Wirtschaft eine konstante Tendenz zu positiven, aber sehr langsamen Veränderungen zu beobachten sei. Der Experte betonte, dass die wirtschaftlichen Probleme und der sinkende Lebensstandard nicht als direkte Folge des Maidan betrachtet werden dürften. Die Wirtschaftsprobleme hätten sich schon seit der Krise 2008/2009 aufgestaut.
Die positivste Errungenschaft des Maidan ist in den Augen der meisten Experten die Entstehung einer aktiven Zivilgesellschaft und einer starken Freiwilligen-Bewegung in allen Bereichen – von der Militärhilfe bis hin zu Organisationen, die Reformen für verschiedene Bereiche erarbeiten. Allerdings, so Iryna Bekeschkina, sei Paternalismus immer noch weit verbreitet. Doch die Hoffnungen der Menschen würde nun nicht mehr auf Politikern beruhen, sondern auf der Zivilgesellschaft.
In einem größeren historischen Kontext, so Oleksij Haran und Jewhen Bystryzkyj, Leiter der internationalen “Renaissance Foundation”, sei eine weitere sehr wichtige Errungenschaft des Maidan zu sehen: die Herausbildung einer ukrainischen politischen Nation.
Wie geht es weiter?
Die größte Herausforderung bleibt nach wie vor der Kampf gegen die Korruption. Zwar sind dafür die institutionellen und rechtlichen Grundlagen gelegt, doch der Staatsapparat leistet noch heftigen Widerstand. “Die Leute wollen natürlich nicht ihre Posten räumen”, unterstrich Iryna Bekeschkina. Ferner seien immer noch nicht diejenigen vor Gericht gestellt worden, die für die Verbrechen gegen Teilnehmer des Euromaidan verantwortlich seien. Auch seien die Vertreter des alten Regimes immer noch nicht für Korruption und andere Verbrechen bestraft worden.
Immer noch nicht erfüllt ist auch die Forderung des Maidan, dass Wahlen künftig mit offenen Parteilisten abgehalten werden sollen. Oleksij Haran hält es für unwahrscheinlich, dass das derzeitige Parlament für eine entsprechende Wahlgesetzänderung stimmen wird. Doch vorgezogene Wahlen werden Haran zufolge die Lage nicht verbessern. “Die öffentliche Meinung ist in dieser Frage gespalten. Eine knappe Mehrheit ist dagegen”, so der Experte. Außerdem sei eine große Mehrheit der Ansicht, dass ein neues Parlament nicht besser arbeiten werde.
Laut der Umfrage der Stiftung “Demokratische Initiativen” rechnen die meisten Experten über kurze Sicht nicht mit einem weiteren Maidan. Es könnte höchstens zu Protesten zu bestimmten Themen kommen. Unterdessen macht sich mangels spürbarer Reformen und wegen der sich verschlechternden Wirtschaftslage in der Gesellschaft Müdigkeit und Verärgerung breit. “Eigentlich ist das eine sehr gefährliche Situation”, sagte Iryna Bekeschkina. Auf der einen Seite würden die Mensche millionenschwere Vermögenserklärungen von Staatsbediensteten sehen und auf der anderen Seite hohe Rechnungen für Wasser, Gas und Strom bekommen.
Die Experten waren sich einig, dass der Maidan nur dann endgültig siegen wird, wenn die Staatsmacht von der Zivilgesellschaft und den westlichen Partnern unter Druck gesetzt wird, weitere Reformen umzusetzen. Jewhen Bystryzky glaubt, dass dabei vor allem junge Menschen aus der Zivilgesellschaft die treibende Kraft sein werden. “Einige sind schon im Parlament, andere sind als Freiwillige aktiv und empfehlen Reformen und setzte sich für sie ein. Sie werden sowieso den Platz derjenigen einnehmen, die nicht in der Lage sind, Reformen umzusetzen. Das ist die Zukunft des Maidan”, sagte er.
Unterstützung der westlichen Partner
Wolodymyr Ohrysko, der von 2007 bis 2009 Außenminister war, sagte bei der Diskussionsrunde im Ukraine Crisis Media Center, die weitere Unterstützung der westlichen Partner werde von Reformen abhängen. “Wenn in der Ukraine keine wirkliche Korruptionsbekämpfung, keine Deregulierung der Wirtschaft und keine Reform der Justiz beginnt, werden die ukrainischen Diplomaten nichts zu tun haben”, betonte Ohrysko.
Die Ukraine müsse sich, so der Diplomat, vor allem zur Aufgabe machen, in der internationalen Arena von einer reaktiven zu einer proaktiven Außenpolitik überzugehen. “Das bedeutet, dass wir eine eigene Agenda schaffen müssen, die für die Ukraine von Vorteil ist. Wir müssen klar und deutlich unseren Garantiemächten sagen, dass wir bilaterale Sicherheitsabkommen fordern, aber auch reale und praktische militärische Hilfe. Das Budapester Memorandum haben keine zweiten Sekretäre unterzeichnet, sondern Staatspräsidenten. Das ist ein Dokument von höchster politischer Bedeutung”, sagte der ehemalige Außenminister.