Menschenrechtler: Liegt im Donbass eine Okkupation vor?

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Damit die Ukraine ihre Interessen vor internationalen Instanzen gegen die Russische Föderation verteidigen kann, muss die Tatsache einer Besatzung bewiesen und die Lage im Donbass in Übereinstimmung mit den Begrifflichkeiten und Kriterien des internationalen Rechts bewertet werden. Was alles bei einer solchen juristischen Bewertung zu berücksichtigen ist, erläuterte Wayne Jordash QC, Managing Partner der internationalen Menschenrechtsgruppe Global Rights Compliance, während einer Pressekonferenz im Ukraine Crisis Media Center.

Die wichtigsten internationalen Bestimmungen

Die klassische Definition von Besatzung impliziert die Anwesenheit einer gegnerischen ausländischen Armee, die eine effektive Kontrolle über das Gebiet eines fremden Staates oder seiner Teile ausübt. Doch das humanitäre Völkerrecht (IHL) erkennt auch an, dass bestimmte Situationen, die bei bewaffneten Konflikten auftreten können, die Anwendung des Besatzungsrechts auslösen können – also in einer Situation, die nicht unter die klassische Definition einer Okkupation fällt.

Entscheidend für die Definition, ob es sich in einem Land um eine Besatzung handelt, ist Artikel 42 der Haager Landkriegsordnung. Ihr zufolge gilt ein Gebiet als besetzt, wenn es sich tatsächlich in der Gewalt eines feindlichen Heeres befindet. “Das gilt als Okkupation, unabhängig davon, ob man von Invasion, Befreiung, Verwaltung oder Besetzung spricht”, sagte Jordash.

Nach der Auslegung des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes sind dies Elemente einer effektiven Kontrolle über ein fremdes Territorium:
1. Die Anwesenheit fremder Streitkräfte ohne Zustimmung des betroffenen Landes.
2. Die Ausübung von Obrigkeit im gesamten Staatsgebiet oder in dessen Teilen durch ausländische Streitkräfte, anstatt der lokalen Behörden.
3. Das weitgehende oder vollständige Unvermögen der lokalen Behörden, aufgrund der Anwesenheit ausländischer Streitkräfte ihre Vollmachten auszuüben.

Trifft die Lage im Donbass die Definition einer Okkupation?

“In heutigen Konflikten kommt es häufig zu Situationen, in denen Gebiete durch Angehörige von Streitkräften kontrolliert werden, die im Auftrag eines ausländischen Staates handeln. Auch im Donbass stellt sich die Frage, ob Russland dort die Lage mit Truppen beherrscht, über die es die Kontrolle ausübt”, sagte Jordash. Ihm zufolge ist es wichtig festzustellen, ob diejenigen, die diese Kontrolle ausüben, im Auftrag eines Staates handeln. “Soetwas kann man als indirekte Besatzung betrachten”, betonte er. Die “allgemeine Kontrolle” eines Gebietes beinhalte auch die bestehenden Beziehungen des Staates zu jenen Truppen, darunter die finanzielle Unterstützung, die logistische, materielle und technische Hilfe, die organisatorische Unterstützung und Planung sowie die Koordination und Teilnahme an militärischen Operationen oder Tätigkeiten. “Gerade dies untersucht derzeit der Internationale Strafgerichtshof. Er geht der Frage nach, ob Russland die völlige Kontrolle über die bewaffneten Gruppierungen im Osten der Ukraine hat”, erläuterte Jordash.

An welche Instanzen kann sich die Ukraine wenden?

Die wichtigsten internationalen Instanzen, an die sich die Ukraine wenden kann, ist der Internationale Gerichtshof (UNO), der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und der Internationale Strafgerichtshof. Beschwerden der Ukraine kann der UN-Menschenrechtsausschuss, der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung und eine internationale humanitäre Kommission zur Abklärung der Tatsachen prüfen.

Wozu wäre Russland verpflichtet, wenn eine Okkupation nachgewiesen wird?

Jordash betonte, dass die Verpflichtungen eines Besatzers von der Haager Landkriegsordnung und den Genfer Konventionen festgelegt seien. Insbesondere sei ein Besatzer dazu verpflichtet, die Eigentumsrechte zu respektieren, er dürfe keine Bevölkerung vertreiben, er müsse die Sozial- und Arbeitsrechte der Menschen achten, Zugang zu Nahrung, Medikamenten und medizinischer Versorgung sicherstellen sowie die Verpflichtungen im Bereich der Menschenrechte einhalten, die in unterzeichneten Abkommen vorgesehen seien. Im Falle von Russland seien dies die Europäische Menschenrechtskonvention und der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte.

Wozu wäre die Ukraine verpflichtet, wenn Russland als Besatzer definiert wird?

Gemäß dem humanitären Völkerrecht müsste die Ukraine in jedem Fall die Richtlinien erfüllen, die die Mittel und Methoden der Kriegsführung regeln, und zwar das Prinzip der Unterscheidung, die Überprüfung der militärischen Ziele, die Überwachung des Angriffs und das Prinzip der menschlichen Behandlung geschützter Personen. Die Ukraine müsste auch die Richtlinien zur Gewährung humanitärer Hilfe erfüllen, und zwar einen schnellen und reibungslosen Transport der gesamten humanitären Hilfe für die Zivilbevölkerung. Dabei müsste sie unparteiisch und ohne Diskriminierung vorgehen. Auch müsste dem beauftragten Hilfspersonal Bewegungsfreiheit gewährt werden.

“Selbst wenn die Ukraine keine Kontrolle über den Donbass ausübt, ist sie gemäß den allgemeinen Regeln, die von der Europäischen Menschenrechtskonvention und dem UN-Menschenrechtsausschuss aufgestellt werden, weiterhin an ihre Verpflichtungen im Bereich der Menschenrechte gegenüber den in dieser Region lebenden Menschen gebunden. Natürlich kann die Ukraine einigen Verpflichtungen mangels Kontrolle nicht nachkommen. Aber die Ukraine muss alle möglichen Maßnahmen nutzen, um die Menschenrechte zu gewährleisten. Man wird jede einzelne Maßnahme separat bewerten, ob sie den Verpflichtungen entspricht und genügt”, so Jordash.