Was ist in der Ukraine in der Erklärung des polnischen Außenministers Witold Waszczykowski, wonach die Ukraine “mit Bandera nicht Teil Europa werden kann”, unbemerkt geblieben? Entspringen die ukrainisch-polnischen Meinungsverschiedenheiten nur der Sicht auf die Geschichte? Wie soll man in die Zukunft schauen, und nicht in die Vergangenheit? Das Ukraine Crisis Media Center (UCMC) bringt eine Übersetzung eines Interviews von Maria Yemets vom UCMC mit der polnischen Ukrainistin Ola Hnatiuk. Sie ist Professorin an der Warschauer Universität und der Kiewer Mohyla-Akademie, Autorin sowie Mitglied des polnischen und ukrainischen P.E.N.-Clubs.
UCMC: Wie ist Ihrer Meinung nach die Erklärung des polnischen Außenministers Witold Waszczykowski zu verstehen, wonach die Ukraine “mit Bandera nicht Teil Europas werden kann”? Ist das eine Folge des Gesetzes zur Dekommunisierung und Umbenennung von Straßen nach Stepan Bandera und Roman Schuchewytsch, was in Polen mit Empörung aufgenommen wurde? Oder gibt es noch andere Faktoren?
Ola Hnatiuk: Das ist keine einfache Erklärung vonseiten des Außenministers eines unmittelbaren Nachbarlandes, das bis heute als strategischer Partner betrachtet wird. Das ist ein Warnsignal, das nicht bloß mit der historischen Gestalt Banderas in Verbindung gebracht werden darf. In dem Interview gibt es bei Weitem wichtigere Fragen, die äußerste Aufmerksamkeit und eine angemessene Reaktion erfordern. Meiner Meinung nach ist das ein Signal für eine grundlegende Veränderung in der polnischen Ostpolitik.
UCMC: Ist dieses Warnsignal Ausdruck bestimmter politischer Vorgänge in Polen? Oder weist es auf andere Faktoren hin, zum Beispiel auf russischen Einfluss?
Ola Hnatiuk: Den russischen Faktor darf man nie unterschätzen. Das ist eine ernste Frage und betrifft nicht nur die Ukraine oder Polen. Mir scheint, dass es gerade in unseren Ländern, die diesbezüglich über reichlich historische Erfahrung besitzen, dieser Faktor paradoxerweise unterschätzt wird. Gerne würde ich mich irren, aber ich sehe bislang weder einen entschiedenen Widerstand noch eine gemeinsame Front in dieser Konfrontation.
UCMC: Warum sind historische Fragen für die polnische Gesellschaft bis heute so aktuell und schmerzhaft?
Ola Hnatiuk: Für die polnische Identität ist das historische Narrativ etwas Unveräußerliches. In Zeiten, als es keinen polnischen Staat gab, während des ganzen 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wurde das Fehlen des Staates durch das historische Narrativ ersetzt. Dies war die romantische Literatur: Adam Mickiewicz, Juliusz Słowacki und auch Henryk Sienkiewicz. Sie schufen die romantische Vision der polnischen Geschichte, welche den nationalen Gedanken unterstützen sollte. Darauf beruht die heutige polnische nationale Identität. […] Die heutigen Ukrainer sind weitaus weniger ethnozentrisch und weniger auf die Geschichte fixiert, als die Polen. Es gibt einen bestimmten Teil der Identität, der nicht ausschließlich auf historischen Wurzeln oder auf der kulturellen Identität beruht. Sehr viele Menschen in der Ukraine betrachten sich als Ukrainer, aber sprechen nicht unbedingt Ukrainisch und kennen nicht unbedingt die ukrainische Kultur. Das ist ein etwas anderer Typ von Identität, der auf Loyalität gegenüber dem Staat beruht, und er entsteht buchstäblich vor unseren Augen.
UCMC: Welchen Begriff sollte man besser verwenden – “Wolhynien-Tragödie“, das “Verbrechen von Wolhynien“ oder “Wolhynien 43“ – damit keine ungewollten zusätzlichen Konnotationen entstehen?
Ola Hnatiuk: Das ist eine sehr schwere Frage, darüber müsste man sich separat unterhalten. Für die Polen ist der Ausdruck “Wolhynien-Tragödie“ ein Euphemismus, weil eine “Tragödie“ der Definition nach schon seit der antiken Literatur eine Situation ist, die vom Schicksal herbeigeführt wird, und der Held oder die Heldin tragen eigentlich keine Schuld, sie sind verdammt: Was immer sie auch tun, sie verursachen Unheil. Im ukrainischen Sprachgebrauch ist das Wort “Tragödie“ etwas breiter gefasst. […] Aber wenn die Polen das hören, steht für sie fest: “Die Ukrainer entledigen sich ihrer Schuld.“ Wenn die Ukrainer das sagen, kommt ihnen nicht in den Sinn, dass dies so aufgefasst wird. Das kann man hier nicht so eindeutig sagen, man muss es erläutern. Hinsichtlich “Wolhynien 43“, so ist das ein Begriff aus den Medien, aus dem nicht hervorgeht, was geschehen ist. Den Begriff “Wolhynien-Massaker“ lehne ich grundsätzlich ab, das ist eine Entmenschlichung sowohl der Opfer als auch der Täter.
UCMC: Was muss man auf die neue Tagesordnung setzen, um die ukrainisch-polnischen Beziehungen mehr auf die Zukunft als auf die Vergangenheit auszurichten?
Ola Hnatiuk: Ich glaube, diese Tagesordnung ist größtenteils mit Perspektiven für die Jugend verbunden. Die Perspektiven sind schon für die polnischen Jugendlichen nicht rosig und erst recht nicht für die ukrainischen, für die die Kriegserfahrung bestimmend sein wird. Die junge Generation verlässt ihr Land. Ukrainer gehen nach Polen und nicht nur dorthin, und Polen gehen nach Großbritannien, Frankreich, Deutschland, in andere Länder der EU, oder in die USA. Ich werde nicht müde dazu aufzurufen, solche Projekte zu schaffen, damit unsere Jugend unsere Länder nicht verlässt.
Sowohl die polnische als auch die ukrainische Regierung denkt an die Sicherheit, insbesondere an die Informationssicherheit, an die Aussichten auf ein friedliches Leben, zum Beispiel daran, wie man die Rentenkasse sichert. Man muss Berührungspunkte schaffen und Programme, die dies begünstigen. Aber das Erste, was man schaffen muss, ist eine transparente Grenze. Weil der Eindruck, den Ukrainer und Polen an der Grenze erhalten, ist eine Schande. Das sagt auch alles über die Führungen unserer Länder, die es in 26 Jahren nicht geschafft haben, würdige Bedingungen beim Grenzübertritt zu schaffen.