Vortäuschung oder echter Fortschritt: Bekommt die Ukraine ein Anti-Korruptions-Gericht?

Die ukrainische Justiz steckt wohl in ihrer tiefsten Vertrauenskrise. Das Ukraine Crisis Media Center (UCMC) hat in seinem Jahresrückblick bereits darauf hingewiesen, dass die Ukrainer im Jahr 2017 einen akuten Mangel an Gerechtigkeit empfanden. Dieses Gefühl wurde leider zu Neujahr durch den schockierenden Mord an der ukrainischen Juristin Iryna Nosdrowska noch weiter verstärkt. Die Frau hatte gegen Willkür im Justizwesen gekämpft und erreicht, dass ein Verwandter eines Richters hinter Gitter kam, der für den Tod von Nosdrowskas Schwester verantwortlich ist. Der Mord an der Juristin erinnert erneut daran, dass Personen in hohen Staatsämtern ungestraft davon kommen können und Strafverfolgungsbehörden korrupt sein können. Noch ist unbekannt, wer den Mord an Iryna Nosdrowska begangen hat. Noch laufen die Ermittlungen. Doch die Öffentlichkeit vermutet bereits, dass jener Richter oder seine Familie hinter der Ermordung stecken. Aber auch andere Ereignisse sorgen für Misstrauen in der ukrainischen Gesellschaft, unter anderem das Gezerre um die Schaffung eines Anti-Korruptions-Gerichts. So erntete ein entsprechender Gesetzentwurf des Präsidenten heftige Kritik. Einzelheiten vom UCMC.

 

Demoskopen: Die ukrainische Justiz steckt in einer Vertrauenskrise. Laut einer Meinungsumfrage des ukrainischen Rasumkow-Zentrums, die im Herbst 2017 durchgeführt wurde, genießt unter den ukrainischen öffentlichen Institutionen das Justizwesen mit 71,6 Prozent das geringste Vertrauen. Schlechter schneiden nur noch die russischen Medien ab. Das Misstrauen gegenüber der Justiz ist allgegenwärtig und der Vorwurf der Korruption ist oft nicht unbegründet.


Was ist ein Anti-Korruptions-Gericht und warum ist es nötig? Ein Anti-Korruptions-Gericht soll Fälle von Korruption unter hochrangigen Beamten, insbesondere bei Richtern, prüfen. Die Aufgabe eines solchen Gerichts besteht darin, Einzelpersonen, die Gesellschaft und den Staat vor Korruption und damit verbundenen Straftaten zu schützen. Ein solches Gericht sollte den Status einer ersten Instanz und den einer Berufungsbehörde bekommen. Die territoriale Zuständigkeit eines solchen Gerichts würde sich auf das gesamte Territorium der Ukraine erstrecken. Es könnte zu einem wichtigen Bestandteil eines erneuerten Systems aus Strafverfolgungsbehörden werden. Auch könnte es zu einem wichtigen Glied in der Kette beim Abschluss von Ermittlungen des Nationalen Anti-Korruptions-Büros (NABU) und der Anti-Korruptions-Staatsanwaltschaft werden. Präsident Petro Poroschenko hatte erstmals in der ersten Hälfte des Jahres 2016 versprochen, in der Ukraine ein Anti-Korruptions-Gericht zu schaffen. Ende Mai 2016 nahm er unter dem Druck der Zivilgesellschaft die Einrichtung eines solchen Gerichts in den Gesetzentwurf über das Justizwesen und den Status von Richtern auf. Am 2. Juni 2016 wurde der Entwurf vom Parlament gebilligt.

Widerstand des Präsidenten. Doch schon im darauffolgenden Jahr 2017 begann Poroschenko alle davon zu überzeugen, dass ein solches Gericht unnötig sei. Im Herbst 2017 erklärte er auf dem internationalen Forum “Yalta European Strategy” (YES) in Kiew, die Ukraine sei nicht Uganda und man müsse kein eigenes Gericht für Korruptionsfälle schaffen. Das Hauptargument war, dass die Schaffung eines speziellen Gerichts für Fälle von Korruption auf höchster staatlicher Ebene “verfassungswidrig” sei. So entstand die Idee, statt eines separaten Gerichts sogenannte Anti-Korruptions-Kammern bei bestehenden Gerichten zu schaffen. Der Abgeordnete der Fraktion “Block Petro Poroschenko” (BPP), Serhij Aleksejew, ließ sogar einen entsprechenden Gesetzentwurf im Parlament registrieren.

Internationaler Druck. Die internationale Gemeinschaft reagierte äußerst negativ auf die Pläne der ukrainischen Präsidialverwaltung bezüglich eines Anti-Korruptions-Gerichts. Die Einrichtung eines solchen Gerichts ist in letzter Zeit zur Hauptforderung aller westlichen Partner der Ukraine geworden. Ohne ein entsprechendes Gesetz will beispielsweise der IWF gar nicht mehr über eine Wiederaufnahme der Zusammenarbeit mit der Ukraine sprechen. Ein Gesetz über die Schaffung eines Anti-Korruptions-Gerichts wird auch immer wieder bei Poroschenkos Gesprächen mit den Führungen der wichtigsten Partnerländer der Ukraine verlangt.

Empfehlungen der Venedig-Kommission. Im Oktober 2017 setzte die Venedig-Kommission des Europarates (Europäische Kommission für Demokratie durch Recht) diesem Streit ein Ende. Sie verlangte, dass der Präsident einen Gesetzentwurf zur Schaffung eines Anti-Korruptions-Gerichts ins Parlament einbringt. In einem ausführlichen Gutachten auf 19 Seiten macht die Venedig-Kommission deutlich, dass es inakzeptabel sei, Anti-Korruptions-Kammern bei bestehenden Gerichten einzurichten. Ein neues Gericht müsse gerade Fälle von Korruption auf höchster staatlicher Ebene behandeln. Ferner sollten die internationalen Geldgeber der Ukraine eine Schlüsselrolle bei der ersten Besetzung des Gerichts spielen. Darüber hinaus legte die Kommission im Einzelnen fest, wie zu verfahren sei, um selbst die geringsten Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des neuen Gerichts auszuräumen.

Gesetzentwurf des Präsidenten. Dem Präsidenten blieb keine Wahl. Unter dem Druck der internationalen Partner und der ukrainischen Öffentlichkeit war er gezwungen, einen eigenen Gesetzentwurf über die Schaffung eines Anti-Korruptions-Gerichts zu erarbeiten. Am 22. Dezember ging der Entwurf beim Parlament ein und am 26. Dezember wurde er auf dessen Webseite veröffentlicht. Von diesem Moment an war klar: Der Präsident hat nicht auf den Rat der Venedig-Kommission gehört. Sein Entwurf stellt den Versuch dar, die Schaffung eines unabhängigen Gerichts vorzutäuschen.

Was wird an Poroschenkos Gesetzentwurf kritisiert? Das lang erwartete Dokument rief bei ausnahmslos allen relevanten Organisationen, darunter beim ukrainischen Zentrum für Korruptionsbekämpfung, bei der Nichtregierungsorganisation “Reanimation Package of Reforms” (RPR) und bei Transparency International Ukraine heftige Kritik hervor. Das sind die Hauptkritikpunkte:

Auswahl der Richter. Laut den Empfehlungen der Venedig-Kommission sollen internationale Mitglieder der Kommission eine entscheidende Rolle bei der Auswahl von Richtern des Anti-Korruptions-Gerichts spielen. Der Kommission zufolge ist ein Mechanismus erforderlich, damit die Mitglieder des Auswahlausschusses, die von den Geldgebern delegiert werden sollen, per Votum die Bestimmung von Gewinnern des Wettbewerbs blockieren können. Doch der Gesetzentwurf des Präsidenten ignoriert diese Empfehlung und schlägt vor, einen gesellschaftlichen Rat aus internationalen Experten zu schaffen, der nur eine beratende Rolle spielen soll. Somit wird den internationalen Partnern lediglich angeboten, die Auswahl der Richter zu legitimieren, ohne einen wirklichen Einfluss auf das Verfahren zu haben.

Die Zuständigkeit des neuen Gerichts. Der Gesetzentwurf des Präsidenten besagt einerseits, dass das Anti-Korruptions-Gericht nicht alle Sachen des NABU prüfen soll. Andererseits soll es sich aber auch mit Fällen anderer Strafverfolgungsbehörden befassen, die nicht mit Korruption auf hoher staatlicher Ebene in Verbindung stehen. So werden in dem Gesetzentwurf beispielsweise Straftaten von Spitzenbeamten im Zusammenhang mit Geldwäsche, Fälle wegen falscher Angabe bei der elektronischen Einkommens- und Vermögenserklärung sowie wegen der Annahme von Rechtsakten, die die Einnahmen zum Staatshaushalt illegal mindern, der Gerichtsbarkeit des Anti-Korruptions-Gerichts entzogen. Gleichzeitig soll das Gericht dazu “verdammt” werden, Fälle von Drogen- und Waffenhandel zu prüfen, an denen Beamte beteiligt sind. In der Praxis würde dies bedeuten, dass das Anti-Korruptions-Gericht mit solchen Fällen überflutet würde und dann nicht mehr in der Lage wäre, seiner eigentlichen Aufgabe zu folgen, nämlich aufsehenerregende Fälle von Korruption auf hoher staatlicher Ebene zu untersuchen.

Unrealistische Anforderungen an Anwärter für ein Richteramt beim Anti-Korruptions-Gericht. Poroschenkos Gesetzentwurf stellt Anforderungen an Richter, mit denen die Schaffung eines Anti-Korruptions-Gerichts verzögert werden kann. So muss ein Kandidat für ein Richteramt neben Erfahrungen als Richter, Rechtsanwalt oder Wissenschaftler auch nachweisen, “bedeutende Berufserfahrung im Bereich des Anti-Korruptions-Rechts bei internationalen Organisationen oder internationalen Gerichten” gesammelt zu haben. In der Ukraine gibt es nur sehr wenige Personen, die über solche Erfahrungen verfügen. Ferner schreibt der Gesetzentwurf die Anzahl der Richter am Anti-Korruptions-Gericht nicht fest, was das Gericht von der Staatlichen Gerichtsverwaltung abhängig macht, denn sie kann dann die Anzahl der Richter nach eigenem Ermessen bestimmen – im Einvernehmen mit dem Hohen Justizrat, der dem Präsidenten wohl gesinnt ist. Es reicht also zu bestimmen, dass das Gericht aus 100 Richtern bestehen und mit 67 seine Arbeit aufnehmen soll. Damit würde das große Risiko entstehen, dass Richter fehlen. Das würde ermöglichen, die Schaffung des Anti-Korruptions-Gerichts unendlich in die Länge zu ziehen, bis die “passenden” Kandidaten gefunden sind.

Die Kritik an dem Gesetzentwurf des Präsidenten beschränkt sich allerdings nicht nur auf diese drei Punkte. Es sind in Wirklichkeit viel mehr. Daher raten gesellschaftliche Organisationen, diesen Entwurf nicht zu überarbeiten, sondern ganz zurückzuziehen. Ob Poroschenko auf den Rat hören wird? Die Zeit wird es zeigen.