Die ukrainische Zivilgesellschaft und die westlichen Partner der Ukraine sind alarmiert, denn Entscheidungen des ukrainischen Verfassungsgerichts und des Parlaments stellen die Unabhängigkeit des Nationalen Anti-Korruptions-Büros (NABU) und der Spezialisierten Staatsanwaltschaft für Korruptionsbekämpfung (SAP) in Frage. Sie könnten sogar zur Aufhebung der visumfreien Einreise in die EU und zu einem Stopp der finanziellen Unterstützung durch westliche Geber führen, warnen sowohl Experten als auch westliche Politiker und Vertreter der ukrainischen Opposition. Was ist los rund um das NABU und die SAP?
Juristischer Krieg gegen das NABU?
Am 16. September erklärte das Verfassungsgericht Bestimmungen des Gesetzes über die Schaffung des NABU für verfassungswidrig. Das entschied die obere Kammer des Gerichts nach Prüfung einer Petition von 50 Abgeordneten. So sei der damalige Präsident der Ukraine, Petro Poroschenko, nicht befugt gewesen, das NABU einzurichten und eine Expertenkommission zusammenzurufen, die in einem Wettbewerb einen Leiter für die neue Behörde bestimmen sollte.
Mit anderen Worten, das Gericht entschied, dass der frühere Präsident Poroschenko seine Vollmachten überschritten hatte, indem er das NABU schuf und Artem Sytnyk zu dessen Direktor machte. Die Richter erlaubten jedoch, dass die Gesetzesbestimmungen noch drei Monate in Kraft bleiben, verpflichteten jedoch zugleich das Parlament, die entsprechenden Bestimmungen des NABU-Gesetzes unverzüglich zu ändern und mit der Verfassung in Einklang zu bringen.
Am 28. August hatte das Verfassungsgericht mit einem Beschluss das konkrete Dekret des früheren Präsidenten Poroschenko zur Ernennung von Artem Sytnyk als NABU-Direktor bereits für verfassungswidrig erklärt.
Worin besteht der juristische Konflikt um das NABU? Kateryna Ryschenko von Transparency International Ukraine meint, es sei keine Überraschung, dass das Verfassungsgericht Bestimmungen des NABU-Gesetzes für verfassungswidrig erklärt habe. Die Voraussetzungen dafür habe die frühere Staatsführung selbst geschaffen, als sie die Anti-Korruptions-Behörden gründet habe.
Die Kritik des Verfassungsgericht betrifft vor allem die Kompetenzen des Präsidenten. Er verfüge über eine ganze Reihe von Befugnissen, zu denen jedoch nicht die Schaffung des NABU gehört habe. Im Wesentlichen handele es sich dabei um ein Exekutivorgan, daher wäre es logischer gewesen, wenn die Regierung über seine Zusammensetzung und Führung entscheiden hätte.
Ryschenko warnt, dass die Änderung des NABU-Gesetzes nun zu einer Büchse der Pandora werden könnte. Es bestehe das Risiko, dass Abgeordnete, die nicht an der Bekämpfung der Korruption interessiert seien, noch weitere Gesetzesänderungen vornehmen könnten.
Damals, während der Bildung des NABU, sei schon klar gewesen, so Ryschenko, dass der Vorgang nicht im Einklang mit der Verfassung stehe. “Es wurde darüber diskutiert, aber dann wurde die Beteiligung des Präsidenten am Aufbau dieser Behörde mit politischer Zweckmäßigkeit begründet. Damals war das ein Kompromiss, der nun zu einem Schuss ins Bein geworden ist. Es ist unklar, wie dies enden wird. Daher muss man die Gesetzesänderung genau beobachten”, so Ryschenko.
Fedir Wenislawskyj, Vertreter des Präsidenten im Verfassungsgericht, der als Abgeordneter der regierenden Partei “Diener des Volkes” im Parlament sitzt, meint, der Richterbeschluss behindert in Wirklichkeit gar nicht die Arbeit des NABU. Der Beschluss bezieht sich ihm zufolge lediglich auf die Befugnisse des Präsidenten. “Die Entscheidung des Verfassungsgerichts gilt nicht rückwirkend. Zum Zeitpunkt der Gründung des NABU und der Ernennung seines Leiters war alles legal. Das NABU wird wie gewohnt weiterarbeiten, bis das Gesetz geändert und ein neuer Leiter ernannt wird”, sagte Wenislawskyj im ukrainischen Fernsehen.
Was sagt der Leiter des NABU? NABU-Direktor Artem Sytnyk gab selbst gegenüber “Radio Liberty” zu, dass es juristische Probleme gebe. Den Streit um das NABU führt er auf die Tatsache zurück, dass “eine unabhängige Einrichtung nicht für jeden bequem ist, auch nicht für diejenigen, die in höchsten Ämtern sind”. Wie lange jedoch Sytnyk das NABU noch leiten wird und wie ein neuer Leiter gewählt werden soll, darauf gibt es beim Verfassungsgericht, im Parlament oder im Präsidialamt noch keine Antwort.
Was ist mit der SAP los? Angriff auf die Transparenz und Unparteilichkeit
Zusammen mit den Ereignissen rund um das NABU geriet auch die Spezialisierte Staatsanwaltschaft für Korruptionsbekämpfung (SAP) in den Mittelpunkt der Öffentlichkeit. Im November 2020 lief der Vertrag des Chefs der Anti-Korruptions-Behörde, Nasar Cholodnyzkyj, aus. Am 15. Juli gelang es dem Parlament aber nicht, genügend Stimmen für die Ernennung von sieben der elf Mitglieder der Auswahlkommission zusammenzubekommen, die eine neue SAP-Leitung und andere Beamte dieser Behörde bestimmen soll.
Da Cholodnyzkyj gekündigt hat, hat die SAP seit dem 21. August keine Leitung. Noch am selben Tag wurde die Entlassung von der Generalstaatsanwältin der Ukraine, Iryna Wenediktowa, unterzeichnet. Seitdem ist sie de facto auch Chefin der SAP, bis eine neue Leitung der Behörde ernannt wird.
Am 3. September unternahm das Parlament einen zweiten Versuch, die Auswahlkommission zu besetzen, doch wieder kamen zu wenig Stimmen zusammen. Am 17. September ernannte das Parlament mit 239 Stimmen schließlich sieben der elf Mitglieder der Kommission. Vier weitere sollen vom Rat der Staatsanwälte des Landes gewählt werden. Das Problem ist aber, dass sowohl westliche Politiker als auch ukrainische Anti-Korruptions-Organisationen die Integrität dieser Fachleute in Frage stellen.
Warnung aus dem Europäischen Parlament
Kurz vor der Parlamentsabstimmung über die Mitglieder der Auswahlkommission forderten die Botschafter der G7-Staaten die ukrainische Regierung auf, die Anti-Korruptions-Behörden zu unterstützen und das NABU und die SAP zu schützen.
Aus dem Europäischen Parlament war zu hören, eine problematischen Wahl einer neuen Leitung der SAP könnte zur Aufhebung des visumfreien Reiseverkehrs führen. Das machte Viola von Cramon, MdEP und stellvertretende Leiterin der Delegation des Ausschusses EU-Ukraine, auf Twitter deutlich. Während die internationale Gemeinschaft mit Belarus beschäftigt sei, versuche die ukrainische Regierung hastig Kandidaten durchzusetzen, die zu unerfahren und zu wenig integer seien, um eine SAP-Leitung zu bestimmen. In Gefahr sei auch eine Finanzhilfe in Höhe von 1,5 Milliarden Euro, so von Cramon.
USA: Weitere Unterstützung ist in Gefahr
Die weitere Unterstützung der Ukraine durch die Vereinigten Staaten und die Europäische Union wird davon abhängen, wie integer die Kommission sein wird, die eine neue Leitung der SAP bestimmen soll. Das erklärte die US-Botschaft in der Ukraine. “Die USA und die EU haben die Entscheidung des ukrainischen Parlaments bezüglich der Mitglieder der Auswahlkommission zur Kenntnis genommen. Die Kommission muss ein transparentes Verfahren einleiten, das auf der Integrität und dem Verdienst der Kandidaten beruht. Davon wird unsere weitere Unterstützung abhängen”, so die US-Botschaft.
Experten: Abschaffung der Anti-Korruptions-Behörden?
Beginn einer Demontage. Der Leiter von “State Watch”, Hlib Kanewskyj, sagte gegenüber “Radio Liberty”, bei der Besetzung der Auswahlkommission und der Wahl einer neuen SAP-Leitung habe das Parlament gezeigt, dass die Regierungspartei mit prorussischen Kräfte kooperiere.
“Die politische Demontage der in den vergangenen Jahren aufgebauten Anti-Korruptions-Behörden geht weiter. Ich schließe nicht aus, dass nach der SAP und dem NABU die Abgeordneten der ‘Diener des Volkes’ zusammen mit Politikern der Opposition, die eindeutig antiwestlich orientiert sind, versuchen werden, sich die Nationale Agentur zur Verhütung von Korruption vorzunehmen, die in den letzten Monaten ihre Unabhängigkeit bewiesen hat, indem sie die neuen Abgeordneten und Minister überprüft hat. Sollte die Agentur nicht gezähmt werden, werden wir bald Veröffentlichungen über zahlreiche Verstöße in den Einkommenserklärungen von Vertretern der Staatsmacht erleben. Natürlich kann man weiterhin naiv glauben, dass eine Petition an das Verfassungsgericht ein Kampf für juristische Gerechtigkeit ist. Meiner Meinung nach ist dies jedoch eine Demontage von Strafverfolgungsbehörden, die in den letzten Jahren der Gesellschaft Hoffnung gaben, dass die Korruption überwunden werden könnte”, so der Experte Kanewskyj.
Direkter Verstoß gegen Bedingungen der Visafreiheit. Nach Ansicht des “Zentrums für Korruptionsbekämpfung” hat die regierende Partei “Diener des Volkes” direkt gegen die Bedingungen der visumfreien Einreise in die EU verstoßen, indem sie für eine ihr bequeme Besetzung der SAP-Auswahlkommission gestimmt habe – und das trotz der Erklärung des EU-Vertreters und der G7-Botschafter und einflussreicher Europaabgeordneter, die davor gewarnt hätten, dass solche Abstimmungen einen hohen Preis haben könnten.
Systematische Attacken, aber mit Absicherung. Kateryna Ryschenko von Transparency International Ukraine sagt, dass es in der Ukraine weiterhin systematische Attacken auf die Anti-Korruptions-Behörden gebe. Es sei aber zu früh, von einer Vernichtung der Behörden zu sprechen.
“Es wird ganz klar weiterhin versucht, die Anti-Korruptions-Behörden zu schwächen und ihnen ihre Unabhängigkeit zu nehmen. Die Abstimmung im Parlament über die Auswahlkommission für eine neue SAP-Führung bestätigt dies. Es ist jedoch noch zu früh zu sagen, dass die Anti-Korruptions-Behörden neutralisiert sind. Es gibt zahlreiche Absicherungen, darunter die Gewährleistung der Unabhängigkeit von Staatsanwälten und Detektiven von der Führung dieser Behörden. Ja, es gibt den erwarteten Widerstand. Beeinträchtigt dies die Arbeit der Anti-Korruptions-Behörden? Ja! Kann man sagen, dass sie vernichtet sind? Nein! Leider schreiten derzeit die Reformen in der Ukraine nicht voran. Reformer sind bemüht, die Erfolge nach dem Sieg der Revolution der Würde zu bewahren und Rückschritte zu verhindern”, betonte Ryschenko.
Was sagt das Präsidialamt?
Auf die Anschuldigungen, Kritikpunkte und Warnungen des Westens und der ukrainischen Gesellschaft reagierte das Büro des Präsidenten der Ukraine mit der Aufforderung, die Arbeit der Anti-Korruptions-Behörden anhand ihrer Ergebnisse zu bewerten und von “übermäßigen Emotionen” und “spekulativen Einschätzungen” abzusehen.
“Wir fordern auf, von übermäßigen Emotionen aller Teilnehmer an der öffentlichen Debatte über die Anti-Korruptions-Infrastruktur des Staates sowie von spekulativen Einschätzungen der Arbeit bestimmter Personen auf Verwaltungsposten in Anti-Korruptions-Organen abzusehen. Der Weg zur Überwindung der Korruption ist auch ein obligatorischer Bestandteil der europäischen und euro-atlantischen Integration unseres Landes. Die eine oder andere Person in der einen oder anderen Position kann kein Maß für die Wirksamkeit des Kampfes gegen Korruption sein. Die Institutionen müssen funktionieren – unabhängig von Personen – ausschließlich orientiert an den Parametern der entsprechenden Gesetze. Die konkreten Ergebnisse der Anti-Korruptions-Infrastruktur müssen endlich deutlich gesteigert werden. In erster Linie in Form von unbestreitbaren Gerichtsurteilen. Wir betonen, dass die neue Leitung der SAP – wer auch immer das nach der Auswahl durch die Kommission sein wird – sich dessen hundertprozentig bewusst sein muss”, heißt es in einer Erklärung des Büros von Wolodymyr Selenskyj.