Am 14. Januar 2020 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erklärt, dass Russland spätestens am 27. Februar 2014, also noch vor der illegalen Annexion am 18. März 2014, die tatsächliche Kontrolle über die besetzte ukrainische Halbinsel Krim übernahm. Mit dieser ersten Entscheidung haben die Richter in Straßburg größtenteils die Klage der Ukraine gegen Russland wegen der Verletzung von Menschenrechten auf der besetzten Krim für zulässig erklärt. Zugleich wurde damit anerkannt, dass Russland für die Einhaltung der Menschenrechte auf der ukrainischen Krim verantwortlich ist, da Moskau seit Ende Februar 2014 de facto die Kontrolle über die Halbinsel ausübt.
Was bedeutet diese Entscheidung, was sind die Hauptpunkte der Klage und womit ist nun zu rechnen? Einzelheiten dazu in einem Beitrag des Ukraine Crisis Media Center (UCMC), der auf Analysen der ukrainischen Presse, insbesondere der Zeitung “Jewropejska Prawda” (Europäische Wahrheit) basiert.
Was ist der EGMR und warum verklagt die Ukraine Russland? Der EGMR mit Sitz in Straßburg hat kein Recht, die Annexion oder Besetzung der Krim als solche und die Aggression Russlands gegen die Ukraine im Allgemeinen zu prüfen, da diese Fragen nicht in seine Zuständigkeit fallen.
Gleichzeitig prüft der Gerichtshof aber Verstöße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), die die Achtung der wichtigsten Rechte und Freiheiten (vom Recht auf Leben bis zum Recht auf Privateigentum) in den Mitgliedstaaten des Europarates garantiert. Doch eine Verletzung dieser Freiheiten an sich ist noch kein Grund, Russland oder einen anderen Staat zu bestrafen. Hauptsache ist zu beweisen, dass ein Staat gegen Verstöße nicht vorgeht und sie zum Beispiel nicht angemessen untersucht.
Was sind die Hauptpunkte der Klage der Ukraine vor dem EGMR? In den Jahren 2014 und 2015 informierte die Ukraine das Gericht in Straßburg, dass Russland auf der besetzten Krim systematisch Menschenrechte verletzt. Die Ukraine ergänzte später ihre Klage und lieferte neue Beweise für russische Verbrechen und Verstöße. So kamen 17 Punkte zusammen, in denen es um systematische Verletzungen von Menschenrechten auf der Krim durch den Besatzer geht:
1) Gewaltsames Verschwinden und Ermordung von entführten Personen
2) Misshandlung von Menschen
3) illegale Inhaftierungen
4) illegale Ausweitung der Gesetze der Russischen Föderation auf die Krim
5) illegale automatische Übertragung der russischen Staatsbürgerschaft
6) Übergriffe auf Privathäuser
7) Verfolgung und Einschüchterung führender religiöser Vertreter, die nicht der Russischen Orthodoxen Kirche angehören, Übergriffe auf Gebetsstätten und Beschlagnahme von religiösem Eigentum
8) Unterdrückung nicht russischsprachiger Medien
9) Einschränkung der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit
10) Enteignung von Eigentum
11) Unterdrückung des ukrainischsprachigen Unterrichts
12) Einschränkung der Bewegungsfreiheit zwischen der Krim und dem ukrainischen Festland durch die Schaffung einer Linie, die die Russische Föderation als Staatsgrenze betrachtet
13) Unterdrückung von Krimtataren in Bezug auf Religionsfreiheit und Achtung ihres Privatlebens
14) Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Krimtataren
15) (systematische) Morde und Hinrichtungen
16) Einschüchterung ausländischer Journalisten und Beschlagnahme ihres Eigentums
17) Verstaatlichung des Eigentums des ukrainischen Militärs
Allerdings lehnte der Gerichtshof die letzten drei Punkte der Klage ab, mit der Begründung, dass die Ukraine zwar Beispiele und Beweise für solche Verstöße vorgelegt habe, der Gerichtshof jedoch nicht genügend Gründe sehe, um von einem systematischen Charakter zu sprechen. Die drei Punkte betrafen Einzelfälle Anfang 2014.
Bei den restlichen 14 Punkten sah der Gerichtshof aber Gründe, von systematischen Verstößen der Russischen Föderation sprechen zu können, und eröffnete so die Prüfung der Klage. Unter diesen Punkten sind gerade die Vorwürfe gegen Russland, die die Annahme zulassen, dass auch das endgültige Urteil des Gerichts zugunsten der Ukraine ausfallen wird.
Die wichtigste Errungenschaft der Ukraine ist aber, dass der EGMR als erstes internationales Gericht das Datum geklärt hat, wann die Ukraine die Kontrolle über die Krim verlor. Dies ist der 27. Februar 2014.
Warum hat das Gericht den 27. Februar 2014 als Beginn der Besetzung anerkannt? Diese Frage ist von rechtlicher Bedeutung. Wann genau begann die Besetzung der Krim durch die Russische Föderation? Welches Datum kann vor Gericht bewiesen werden? War es der 20. Februar – das Datum, das auf den Medaillen des russischen Verteidigungsministeriums steht, die “für die Rückführung der Krim” verliehen wurden? Oder waren es die Tage vom 22. bis 24. Februar, als massenweise Berichte über russische Soldaten eingingen, die ihre Kasernen der Schwarzmeerflotte verließen und sich an wichtigen Routen auf der Krim postierten? Oder ist es März 2014, als Russland mit den Vorbereitungen für das sogenannte “Referendum” auf der Krim begann?
Letztlich entschied sich die ukrainische Regierung, nachzuweisen, dass Kiew in der Nacht vom 26. auf den 27. Februar 2014 die Kontrolle über die Halbinsel verlor, als russische Spezialkräfte das Parlament der Autonomen Republik Krim besetzten. Und diese Entscheidung war richtig. Die Richter in Straßburg stimmten den Argumenten der Ukraine zu und erkannten an, dass seit dem 27. Februar 2014 allein Russland für alle Verstöße auf der Krim verantwortlich ist.
Die wichtigsten Erfolge der Entscheidung vom 14. Januar 2020: Die Ukraine wirft Russland Verstöße vor, die Ende Februar und Anfang März 2014 stattfanden, also bevor Russland die besetzte Halbinsel illegal annektierte. Kiew betont, am 27. Februar 2014, nach der Besetzung des Parlaments der Krim durch russische Truppen endgültig die Kontrolle über die Krim verloren zu haben.
Das Gericht stimmt den ukrainischen Argumenten voll und ganz zu. Insbesondere betrachtet der EGMR die Urteile als rechtswidrig, die von Gerichten auf der Krim gefällt wurden. Er stimmt der Ukraine auch in dem Punkt zu, wonach es “eine Verwaltungspraxis gibt, die Gesetzgebung der Russischen Föderation auf die Krim auszudehnen”, und erklärt ferner, dass “ab dem 27. Februar 2014 die Gerichte auf der Krim als nicht rechtmäßig gebildet angesehen werden können”.
Der Gerichtshof berücksichtigt Putins Aussagen. Der EGMR hat in seiner Entscheidung zur Klage der Ukraine gegen Russland bezüglich der Krim auch zwei unbestreitbare Aussagen von Wladimir Putin berücksichtigt, mit denen der russische Präsident die Besetzung der Halbinsel durch das russische Militär bestätigte.
Die erste stammt von einem Treffen mit Leitern der Sicherheitsdienste in der Nacht vom 22. auf den 23. Februar 2014. Dort sagte er, er habe beschlossen, “mit der Arbeit zur Rückführung der Krim in die Russische Föderation zu beginnen”. Die zweite stammt aus einem Fernsehinterview vom 17. April 2014, wo Putin eindeutig zugibt, dass Russland “Militäreinheiten und Rechtsschutzorgane entwaffnet” habe und dass “russische Truppen die Selbstverteidigungskräfte der Krim unterstützt” hätten.
Wie geht es nun weiter? Klar ist, dass die jetzige Gerichtsentscheidung nur eine Zwischenetappe ist. Mit ihr beginnt lediglich die Prüfung der Klage. Doch das Besondere an diesem Fall ist, dass genügend Beweise für systematische Verbrechen der Russischen Föderation auf der Krim vorliegen.
Sie sind gut dokumentiert und werden auch von anderen internationalen Organisationen anerkannt. Systematische Verstöße gegen die Rechte von Krimtataren und Ukrainern auf der Krim wurden auch vom Internationalen Gerichtshof der Vereinten Nationen als zulässige Beweise anerkannt, und zwar in einem anderen, komplexeren Fall, in dem es um die Verletzung des Übereinkommens über das Verbot der Rassendiskriminierung durch Russland geht.
Es steht außer Zweifel, dass das Verschwinden von Menschen nicht untersucht wird, dass die Versammlungs- und Bewegungsfreiheit eingeschränkt wird, zwangsweise russische Pässe verteilt werden, ukrainisches Eigentum enteignet wird und vieles mehr. Die ukrainische Regierung verfügt über genügend Beweise. Die wichtigste und schwierigste Aufgabe bestand eher darin, dass der EGMR die Klage der Ukraine für zulässig erklärt. Es musste nachgewiesen werden, dass die Probleme systematischen Charakter haben und dass die Prüfung der Klage nicht über die Befugnisse des Gerichtshofs hinausgeht, denn die Aggression Russlands gegen die Ukraine als solche wird vom EGMR nicht geprüft.
Es musste auch nachgewiesen werden, dass Russland schon im Februar 2014 die Kontrolle über die Krim gewann, da einige der ungestraften Verbrechen Russlands im Februar und Anfang März geschahen.
Nun kann man davon ausgehen, dass ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, wenn nicht in allen Punkten, aber in der überwiegenden Mehrheit der Anschuldigungen, zugunsten der Ukraine ausfallen wird.
Kein schnelles Urteil zu erwarten. Vergleichen kann man den Fall mit einer Klage Georgiens vor dem EGMR gegen Russland bezüglich der Folgen des bewaffneten Konflikts von 2008. Die Entscheidung, die Klage zuzulassen, wurde im Dezember 2011 gefällt. Erst nach über neun Jahren kündigten die Richter ein endgültiges Urteil an, das in einer Woche, am 21. Januar, bekannt gegeben werden soll. Die ukrainische Regierung hofft, dass die Klage der Ukraine schneller vorankommt, da die georgische tatsächlich ein Präzedenzfall war. Dennoch wird man im Fall der Ukraine wohl noch einige Jahre warten müssen.