Am 14. Januar 2022 hat das Pressezentrum des Ukraine Crisis Media Center in Kyjiw ein Expertengespräch zum Thema “Die Ukraine im Zentrum der geopolitischen Konfrontation: Das russische Ultimatum und die Reaktion des Westens” veranstaltet. Führende Beobachter, Politiker und Diplomaten sprachen dabei über die Ergebnisse der jüngsten internationalen Gespräche, über mögliche Szenarien einer weiteren Entwicklung der Lage in der Welt und darüber, was die Ukraine tun könnte.
Russland kann Dritten Weltkrieg auslösen
Iwanna Klympusch-Zinzadse, ukrainische Parlamentsabgeordnete und Vorsitzende des Ausschusses für EU-Integration der Ukraine, eröffnete die Diskussion und betonte, dass sich Russland während der internationalen Gespräche in der vergangenen Woche absichtlich “wie ein Hooligan und Erpresser verhalten und Ultimaten gestellt” habe. Diese habe die westliche Welt erwartungsgemäß zurückgewiesen und den Gesprächsstil des Kremls nicht mit übernommen.
“Ich bin mir nicht sicher, ob diese Dialoge zu konkreten Ergebnissen führen können”, sagte Klympusch-Zinzadse. Russlands Staatschef Wladimir Putin werde vom Ehrgeiz getrieben, in die Geschichte des “Russischen Imperiums” eingehen zu wollen. “Er liebt eine gewisse Symbolik. Wir wissen, dass 2022 der 100. Jahrestag seit der Gründung der Sowjetunion ist und wir müssen die Ereignisse in Belarus im vergangenen und vorletzten Jahr als Teil dieses Prozesses betrachten, als schleichende Annexion verschiedener Teile der ehemaligen Sowjetunion durch die Russische Föderation. Gleiches gilt für die Ereignisse in Kasachstan und den dortigen Einsatz von Truppen unter der Ägide der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) sowie für die Eskalation rund um die Ukraine”, unterstrich Klympusch-Zinzadse. Sie warnte, das Vorgehen Moskaus könnte einen Dritten Weltkrieg auslösen.
Im Westen verstehe man dies, so die Politikerin, doch derzeit fehle es an präventiven Maßnahmen. Der Kreml würde nur reale Schritte verstehen. Eine Liste möglicher Strafen, die nur ausgesprochen und nicht umgesetzt würden, sei zu wenig.
Die nächste Stufe der Aggression gegen die Ukraine müsse nicht, so Klympusch-Zinzadse, unbedingt mit einem umfassenden Einsatz von Truppen beginnen. Dies könnten ein großflächiger Stromausfall, ein Dammbruch am Dnjepr oder andere Sabotageakte sein. Der Cyberangriff auf Websites ukrainischer Ministerien am 14. Januar ist ihr zufolge wahrscheinlich bereits eines der Elemente dieser neuen Runde der russischen Aggression gegen die Ukraine.
Klympusch-Zinzadse bedauert, dass der Westen keine klare Schwelle für “höllische Sanktionen” gegen den Kreml festgelegt hat, was ein Anzeichen für eine globale “Rezession der Demokratie” sei.
Putins Aggression konsolidiert den Westen
Danylo Lubkiwskyj, ehemaliger stellvertretender Außenminister der Ukraine (2014) und Direktor des Kyjiwer Sicherheitsforums, stellte fest, Zielpublikum für Russlands skandalöses Verhalten und seine Ultimaten seien weniger die Menschen in den USA und in den mit Washington verbündete Ländern, sondern die Einwohner Russlands selbst.
“Das Vorgehen der russischen Diplomatie zeigt, dass der Rezipient dieses Verhaltens das eigene Publikum ist. Der erste Akt brachte Putins System Dividende. Die Russen wollten beweisen, dass es möglich ist, auf solch unverschämte Weise mit dem Westen zu reden. Jetzt gilt es, in diesem Zusammenhang die chinesische Route mitzuverfolgen, insbesondere Putins geplanten Besuch in Peking im Februar”, betonte Lubkiwskyj.
Er glaubt, US-Präsident Joe Biden habe die jetzige Lage genutzt, um Verbündeten um sich zu scharen. “Wir sehen den Versuch, sich zu verständigen und sich gemeinsam hinter eine erneuerte Rhetorik über gemeinsame Werte und Ziele zu stellen. In gewisser Weise hat Putin dem Westen geholfen, wieder ein Westen zu werden. Die Frage ist nur, ob der Westen für den Marathon bereit ist, den ihm der Kreml abverlangt”, so Lubkiwskyj.
Bedauerlich findet er, dass es nicht gelungen sei, Sanktionen gegen Nord Stream 2 durchzusetzen. Dennoch sieht er Grund zum Optimismus: Noch nie sei die Ukraine in ihrer Geschichte, weder im 20. Jahrhundert noch davor, so verteidigt worden wie heute. “Auch ohne EU- und NATO-Mitgliedschaft ist die Ukraine wieder auf der mentalen Landkarte Europas angekommen”, stellt Lubkiwskyj fest. Jetzt müsse die ukrainische Diplomatie mit einem aktiven Vorgehen die PR- und Twitter-Diplomatie ersetzen. “Jetzt ist die Zeit für außergewöhnliche Aktivitäten des Präsidenten der Ukraine. Gerade deswegen haben ihn so viele Menschen gewählt”, forderte Lubkiwskyj.
“Wir müssen uns selbst verteidigen können”
Wolodymyr Ohrysko, Leiter des ukrainischen Zentrums für Russlandstudien, der von 2007 bis 2009 Außenminister war, stellte fest, dass Moskau nach der Androhung von Sanktionen gegen Putin persönlich einen offenen Rückzieher gemacht habe.
“Das ist das Verhalten eines verängstigten Straßenrowdys. Dieses Verhalten wird so lange anhalten, wie dieses Quasi-Imperium noch funktioniert, und wir müssen psychologisch darauf vorbereitet sein. Nachdem der Kreml eine Liste mit Sanktionen vom Westen erhalten hatte, begann er über die Konsequenzen nachzudenken. Man hat gesehen, dass die USA und die NATO auf jedes Szenario vorbereitet sind. Das zeigt, dass das Aufwachen des Westens konkretere Formen annimmt”, sagte Ohrysko.
Er betonte ferner, dass die Position der ukrainischen Diplomatie bezüglich einer Stärkung der Verteidigungsfähigkeit und Abschreckung neu formuliert werden müsse. Nach dem erzwungenen Atomwaffenverzicht der Ukraine im Rahmen des Budapester Memorandums von 1994 müsse nun auf konventionelle Hochpräzisionswaffen gesetzt werden.
“Wir müssen die Fähigkeit wiedererlangen, jeden Angreifer abschrecken zu können. Es ist klar, wer gemeint ist. Natürlich werden wir niemals gegen die USA oder Deutschland in den Krieg ziehen. Es geht in erster Linie um Russland. Wir sind kein Mitglied der NATO, also müssen wir uns um die Fähigkeit bemühen, uns selbst verteidigen zu können”, unterstrich Ohrysko und forderte auf, sich dafür einzusetzen, dass die Ukraine von westlichen Verbündeten Verteidigungswaffen erhält.
Szenarien einer weiteren Entwicklung
Walerij Tschalyj, Vorstandsvorsitzender des Ukraine Crisis Media Center, außerordentlicher und bevollmächtigter Botschafter der Ukraine, skizzierte drei mögliche Szenarien der weiteren Entwicklung:
Das erste Szenario wäre eine groß angelegte Offensive der russischen Armee mit der Eroberung eines möglichst großen Teils der Ukraine. Dieses Szenario bewertet Tschalyj mit einer Wahrscheinlichkeit von zehn Prozent. Das zweite Szenario wäre eine Deeskalation und Rückkehr der russischen Truppen in ihre Kasernen. Tschalyj bewertet dieses mit einer Wahrscheinlichkeit von 17 Prozent.
Am meisten rechnet er aber mit einer Kombination aus Angriffen und von Russland erzwungenen Zugeständnissen der ukrainischen Führung. Dieses Szenario bewertet Tschalyj mit einer Wahrscheinlichkeit von 73 Prozent. Anzeichen dafür seien, so Tschalyj, Signale, zu einem sogenannten Kompromiss im Friedensprozess um jeden Preis bereit zu sein, was gleichzeitig eine innenpolitische Krise auslösen würde. Genau dazu könnte die ukrainische Regierung gedrängt werden: mit russischen Cyberattacken auf kritische Infrastrukturen, mit Erpressung im Energiebereich, mit Ausfällen von Stromlieferungen aus Belarus oder mit einem Stopp des Transits von Erdgas. Für sehr wahrscheinlich hält Tschalyj, dass “russische Friedenstruppen” in das von der ukrainischen Regierung nicht kontrollierte Gebiet im Donbass einrücken. Diese und weitere Provokationen könnten der Ukraine für Jahrzehnte den Weg in die EU und NATO versperren.
“Die derzeitige Regierung und Teile der Gesellschaft glauben immer noch naiv, dass Frieden mit Zugeständnissen an Putin hergestellt werden könne. Das ist eine sehr gefährliche Illusion”, warnte Tschalyj.
Er geht davon aus, dass der entscheidende Zeitpunkt in wenigen Wochen ab dem 4. Februar eintreten werde, wenn in Peking die Olympischen Winterspiele beginnen. Der russische Staatschef will die Eröffnungsfeier besuchen. Laut Informationen gebe es im Umfeld des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj Überlegungen, genau in diesem Moment am Rande der Olympischen Spiele ein bilaterales Treffen abzuhalten. Auch hier warnt Tschalyj, dass in Abwesenheit des ukrainischen Staatschefs daheim Russland zu einer militärischen Provokation greifen könnte, um die Position der Ukraine zu schwächen. Generell hält er eine Destabilisierung oder gar Offensive der Russen etwa bis April für möglich. Sollte es aber nicht dazu kommen, dann werde es auch bis zum Sommer keine Eskalation mehr geben.
In einem solchen Fall könnte dann, so Tschalyj, auf dem NATO-Gipfel Ende Juni 2022 in Madrid als beste Lösung der Ukraine ein Membership Action Plan (MAP) gewährt werden. Sollten die Staats- und Regierungschefs der westlichen Welt dies jedoch nicht wagen, dann könnte die Umsetzung der republikanischen Initiative im US-Kongress dafür als Ersatz dienen, findet der Diplomat. Die Initiative sieht für die Ukraine einen Status “NATO Plus” vor. Dann würde die Ukraine zusammen mit Australien, Neuseeland, Japan, Südkorea und Israel zu den US-Verbündeten zählen. Vorausgesetzt natürlich, dass ein solcher Status eine NATO-Mitgliedschaft nicht auf Dauer ausschließt.