Warum klagt die Ukraine?
Am 17. Januar 2017 hat die Ukraine die seit langem erwartete Klage gegen Russland beim Internationalen Gerichtshof der Vereinten Nationen in Den Haag eingereicht. Die Ukraine wirft Russland vor, das Internationale Übereinkommen zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus sowie das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (ICERD) verletzt zu haben. (Mehr zum Internationalen Gerichtshof).
Die Frage der Zuständigkeit
Russland erkennt die obligatorische Gerichtsbarkeit des Internationalen Gerichtshofs nicht an. In Anbetracht dessen, dass die Ukraine und Russland Vertragsparteien des UN-Übereinkommens zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus und der UN-Rassendiskriminierungskonvention sind, hat die Ukraine diese beiden Übereinkommen als Grundlage für ihre Klage vor dem Internationalen Gerichtshof genommen.
Da kein Abkommen, das von Russland und der Ukraine ratifiziert worden ist, als Grundlage für ein Verfahren zur Lösung des tatsächlichen Problems dienen kann, nämlich der illegalen Anwendung von Gewalt, sind die beiden Konventionen als Grundlage für einen Prozess ausgewählt worden, was ziemlich ungewöhnlich ist.
Deswegen hat die Ukraine den Vorwurf der Verletzung der Rassendiskriminierungskonvention erhoben und erklärt, dass Russland die in diesem Übereinkommen festgelegten Rechte nicht-russischer ethnischer Gruppen missachtet. Unter diesen Gruppen befinden sich die Krimtataren und die ethnische ukrainische Gemeinschaft auf der Krim.
Ukrainische Regierungsvertreter hatten früher erklärt, sie würden eine Klage gegen Russland vorbereiten und zugleich versuchen, mit Russland Verhandlungen bezüglich der Verstöße gegen die beiden Konventionen zu führen. Dies ist nämlich eine Voraussetzung dafür, den Internationalen Gerichtshofs anzurufen.
Wie die Reaktion auf die Klage der Ukraine auf der Webseite des russischen Außenministeriums zeigt, hat Russland eine völlig andere Sicht auf die Bemühungen der Ukraine, solche Verhandlungen zu führen. Die Russische Föderation erklärt, sie habe selbst “aufrichtig” versucht, den Vorwurf der Ukraine zu prüfen, wonach Russland das UN-Übereinkommen zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus verletze. Doch Russland sei dabei mit “der starken Abneigung der ukrainischen Behörden konfrontiert worden, einen substanziellen Dialog zu führen”. Dies habe schließlich dazu geführt, dass die ukrainische Seite “einseitig die Konsultationen abgebrochen” habe. Russland beruft sich auch auf die Weigerung der Ukraine, den Streit vor einem neutralen internationalen Schiedsgericht beizulegen und behauptet, die Ukraine wolle gar nicht irgendwelche Streitigkeiten beilegen, sondern suche nach “einem Anlass, den Internationalen Gerichtshof anzurufen und die Russische Föderation zu verklagen”.
Was die Erklärungen der Ukraine bezüglich der Verstöße gegen die Rassendiskriminierungskonvention angeht, beharrt Russland seinerseits auf einem Dialog. Doch die Ukraine habe, so Russland, “kein Interesse an der Erörterung dieser Frage gezeigt”. Russland erklärt, es habe der Ukraine vorgeschlagen, die russischen und ukrainischen Gesetze gegen Rassendiskriminierung zu vergleichen, um “ein gemeinsames Verständnis dessen zu finden, wie man am besten die Rechte der Menschen schützt und wie man mit jeder einzelnen Situation umgeht”. Das russische Außenministerium betont, es habe der Ukraine geraten, die eigenen Erfahrungen bei der Anwendung der Konvention auf der Krim “noch vor der Wiedervereinigung der Halbinsel mit Russland” zu prüfen.
Auch wird von russischer Seite behauptet, die Ukraine habe eine Anfrage Russlands bezüglich der Rechte von Russen und russischsprachigen Menschen in der Ukraine ignoriert, da dies nicht Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits sei.
Trotz der Bemühungen um Verhandlungen, können sich die Parteien offenbar nicht in Fragen einigen, die der Klage der Ukraine vor dem Internationalen Gerichtshof zugrunde liegen. Die Richter werden prüfen müssen, ob Verhandlungen im Sinne der beiden Konventionen tatsächlich stattgefunden haben.
Die Frage des materiellen Rechts
Im Zusammenhang mit der Verletzung des UN-Übereinkommens zur Bekämpfung der Finanzierung des Terrorismus erhebt die Ukraine gegen Russland den Vorwurf, sich seit dem Jahr 2014 massiv in die inneren Angelegenheiten der Ukraine einzumischen. So sei Russland in ukrainisches Territorium einmarschiert, es finanziere Terrorakte und verletze die Menschenrechte von Millionen von Bürgern der Ukraine. Die Ukraine erklärt, Russland würde Aktivitäten bewaffneter Rebellen im Osten der Ukraine hervorrufen und unterstützen und damit die in dem Übereinkommen enthalten Grundprinzipien des Völkerrechts verletzen. Da der bewaffnete Konflikt im Osten der Ukraine nach Ansicht des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, verschiedener internationaler NGOs wie Amnesty International und Human Rights Watch sowie seit kurzem auch nach Einschätzung des Internationalen Strafgerichtshofs eindeutig unter Bestimmungen des internationalen Strafrechts fallen, stellt sich die Frage, ob es richtig war, dass sich die Ukraine für die beiden Konventionen entschieden hat. Obwohl die ukrainische Regierung die im Osten der Ukraine kämpfenden Separatisten als “Terroristen” betrachtet, bezeichnet die internationale Gemeinschaft die Lage in der Ukraine als “Hybrid-Krieg”, wo es neben einem internationalen bewaffneten Konflikt auch einen inneren bewaffneten Konflikt gibt.
Auf den Vorwurf der Ukraine, Russland halte die Konventionen nicht ein, behauptet Russland, die Ukraine habe keine Informationen vorgelegt, die ihren Vorwurf bestätigen würden. Außerdem meint Russland, dass die Situation in der Ukraine durch das humanitäre Völkerrecht geregelt werden müsse, womit es die Auslegung der Ukraine in Zweifel zieht, die “Volksrepubliken Donezk und Luhansk” seien “Terroristen”, und das in Anbetracht ihrer bisherigen Beteiligung am Minsk-Prozess zur Lösung des Konflikts. Den gleichen Einwand bezüglich des materiellen Rechts wird Russland zweifellos vor dem Internationalen Gerichtshof ausnutzen.
Die Chancen der Ukraine, mit ihrer Klage wegen der Verletzung der UN-Rassendiskriminierungskonvention Erfolg zu haben, liegen besser. In dieser Frage führt die Ukraine folgende Argumente an: Als Russland mit Gewalt die Krim an sich riss und seine Aggression durch ein illegales Referendum zu legitimieren versuchte, schuf Russland auf der Halbinsel ein von Gewalt geprägtes Umfeld und schüchterte die nicht-russische Bevölkerung der Krim ein. Das stellt nach Ansicht der Ukraine gemäß der Rassendiskriminierungskonvention eine Verletzung der Rechte jener Menschen dar.
Allerdings wird der Internationale Gerichtshof in Den Haag keine Antworten bezüglich der Gewaltanwendung und illegalen einseitigen Annexion der Krim liefern, die die Ukraine hören will, da die Befugnisse des Gerichts ausschließlich auf Beschwerden im Rahmen der UN-Rassendiskriminierungskonvention begrenzt sind. Wenn die Ukraine Antworten auf jene Fragen bekommen will, sollte sie sich dafür einsetzen, dass auf Antrag der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom Internationalen Gerichtshofs entsprechende Gutachten vorgelegt werden.
Artikel von Iryna Marchuk (auf Englisch)