Said Ismagilov: “Durch den Maidan hat die Ukraine die Muslime für sich entdeckt”

Mufti Said Ismagilov, the imam of Muslims of Donetsk and Donetsk region

Wie hat sich das im Leben der muslimischen Gemeinschaft in der Ukraine nach der Annexion der Krim durch Russland und nach dem Beginn des Krieges im Donbass verändert? Wie gestaltet sich das Zusammenleben der muslimischen Gemeinschaft und der christlichen Mehrheit? Das Ukraine Crisis Media Center veröffentlicht eine gekürzte Übersetzung eines Interviews der Internetzeitung LB.ua mit Said Ismagilov. Er ist Mufti der Sunniten in der Ukraine. Geboren wurde er 1978 in Donezk in einer tatarischen Bergarbeiterfamilie. Seinen Schulabschluss machte er in Donezk und studierte dann an der Moskauer Islamischen Universität. Dort erhielt er den Titel des Imams. Er kehrte nach Donezk zurück und war als Dozent an der Ukrainischen Islamischen Universität tätig. 2002 wurde er zum Imam der Muslime in der Region Donezk ernannt. Im September 2014 musste er Donezk verlassen, weil er von den prorussischen Rebellen verfolgt wurde. Seitdem lebt er in Kiew und leitet dort die Geistliche Verwaltung der Muslime der Ukraine “Umma” sowie das dortige Islamische Kulturzentrum.

LB: Was verbinden Sie persönlich mit der Krim?

Said Ismagilov: Mit der Krim verbinde ich den Beginn meiner religiösen Erfahrungen. Ich war damals 15 oder 16 Jahre alt und lebte in Donezk. Auf der Krim gab es ein Sommerlager für muslimische Jugendliche. Dort war ich zum ersten Mal bei einem Freitagsgebet, und das in der Khan-Moschee in Bachtschyssaraj. Der Imam predigte in krimtatarischer Sprache. Das war eine unvergessliche Erfahrung.

Poltawa gilt als der Geburtsort der ukrainischen Hochsprache, Lwiw als der Sammlungsort des politischen Projekts Ukraine. Aber die Krim tritt auf dieser mentalen Landkarte der Ukraine nur punktuell in Erscheinung. An was kann man die Krim festmachen?

Ich würde sie an den Kosaken und Tschumaken festmachen, die auf die Krim kamen, um von dort Salz zu transportieren. Sie sind klar Teil der ukrainischen Kultur, Poesie und Geschichte. Dieser Kosaken-Geist und diese Kultur hat etwas von Nomadentum, obwohl die Ukrainer selbst sesshaft und keine Nomaden sind. Aber diese Tradition der Kosaken-Festung “Sitsch” mit den Feldzügen ist von den Türken übernommen. Die Krim selbst ist kaum Teil der mentalen Landkarte der Ukraine, weil sie eben krimtatarisch war. Man sollte sie aber als Teil der ukrainischen Mentalität an drei Dingen festmachen: an den Kosaken, den Tschumaken und den Krimtataren. Eine gesunde Nation leugnet keinen ihrer Teile, sondern integriert sie. Die Juden betrachtet man als Teil der eigenen Geschichte und Kultur. Es gibt aber auch noch die Krimtataren. Die krimtatarische Kultur sollte als Teil der modernen Geschichte der Ukraine wahrgenommen werden.

Oft heißt es, die verschiedenen Teile der ukrainischen Gesellschaft hätten erst 2014 begonnen, untereinander zu verhandeln. Wie kann Ihrer Meinung nach ein Gesellschaftsvertrag zwischen der traditionell christlichen Ukraine und den ukrainischen Muslimen aussehen?

Das Jahr 2014 war der Beginn der gegenseitigen Integration von Christen und Muslimen in der Ukraine. Davor lebten wir aneinander vorbei. Die meisten Ukrainer wussten gar nicht, dass das Land eigene Muslime hat. Muslimen gegenüber war man vorsichtig, manchmal sogar feindlich gesinnt. Man glaubte, sie seien meist Einwanderer. Durch den Maidan und die Besetzung der Krim hat die Ukraine die Krimtataren und die Muslime überhaupt für sich entdeckt. Die Menschen begriffen, dass die Ukraine groß und vielfältig ist und auch als solche bestehen kann.

Ich denke, dass sich dieser Gesellschaftsvertrag von selbst ergeben hat. All diejenigen, die für die Ukraine eintreten, gehören zu uns. Und diejenigen, die gegen die Ukraine sind, sind faktisch gegen unsere nationale Idee, gegen unsere Einheit, unsere Kultur und Staatlichkeit. Ich habe diese Entwicklung verstanden, als Krimtataren auf den Maidan kamen. Mir war klar, dass man diese Entwicklung beschleunigen muss, dass man das gegenseitige Misstrauen und die Spannungen beseitigen muss. Wie kann man dies beschleunigen? Erstens müssen wir predigen, dass wir die ukrainische Unabhängigkeit und territoriale Integrität achten, dass wir sehr gute Beziehungen pflegen wollen, dass wir die ukrainische Sprache respektieren und lernen müssen sowie die ukrainische Kultur schätzen. Ich predige immer unter Muslimen: Keine Feindseligkeiten gegenüber anderen Kulturen!

Der neue Gesellschaftsvertrag wird umfassend sein und das für immer. Und dieser Gesellschaftsvertrag muss vorsehen, dass wir Muslime alle Kulturen und Religionen anerkennen, dass wir sie achten und tolerieren und ihre Vertreter darum bitten, uns genauso zu behandeln.

Auf der Krim gab es ständig Konflikte zwischen Krimtataren und der pro-russischen Bevölkerung, die sich gegenüber den Krimtataren sehr aggressiv verhielt. Als die Muslime begannen, von der Krim in andere Regionen der Ukraine umzuziehen, nahmen sie leider ihre gesamten negativen Erfahrungen mit. Zum Beispiel kamen Muslime nach Lwiw und forderten sofort den Bau einer Moschee. Die Öffentlichkeit in Lwiw war überrascht und fragte sich: Warum so aggressiv? Um diese Frage zu entschärfen, fuhr ich zu einem Treffen zwischen Muslimen und Christen nach Lwiw und sagte: Lasst uns ein islamisches Kulturzentrum nicht in architektonischer Form einer Moschee einrichten, sondern in einem Gebäude, in dem wir uns versammeln und beten werden, wo wir alle unsere Rituale durchzuführen und Feste feiern werden, ohne die umliegenden Menschen zu stören. In Wirklichkeit lieben und achten sie uns Muslime und haben für uns Verständnis. Und wir Muslime müssen diesen Menschen zeigen, dass wir in jeder Hinsicht zu Kompromissen und zu einem Dialog bereit sind und keinen Konflikt wollen. Heute gibt es in Lwiw eine Synagoge und eine armenische Kirche. Das brauchte auch seine Zeit. Die Menschen mussten sich daran gewöhnen, um ruhig mit anderen Kulturen umgehen zu können.

Kreml-treue Vertreter in Russland sagen oft, die Ukraine sei ein homogenes christliches Land, das im Gegensatz zu Russland, wo Muslime 12 Prozent der Bevölkerung ausmachen, mit Muslimen nicht umgehen könne. Daher gehe es Muslimen in Russland viel besser. Stimmt das?

Das ist absolut nicht wahr. Der Islam und die Muslime in Russland sind in einer sehr schwierigen Lage. Es herrscht große Intoleranz. Ich habe in Moskau studiert und habe das selbst zu spüren bekommen. Russland hat mit Gewalt Territorien an sich gerissen – den Kaukasus erobert und Kriege in Zentralasien geführt. Wenn wir noch weiter in der Geschichte zurückgehen, so wurde das Khanat von Kasan und das Khanat von Astrachan zerstört. Die Muslime in Russland waren immer benachteiligt, was ihre Rechte als Minderheit angeht.

Die Intoleranz nimmt heute wieder zu. Aber ihren Höhepunkt erreichte sie während der beiden Tschetschenienkriege, als die Muslime sehr aggressiv behandelt wurden. Während des zweiten Tschetschenienkriegs studierte ich gerade an der Moskauer Islamischen Universität. Ich sehe wie ein Slawe aus, was mich rettete. Es gab Skinheads, Schlägereien und Pogrome. Die Polizei nahm ständig Muslime direkt vor der Moschee fest.

Auf staatlicher Ebene und was die Gesetzgebung betrifft, sieht es nicht rosig aus. Es gibt Listen mit verbotener Literatur. Andersdenkende werden verfolgt. In Russland wurden Moscheen zerstört und religiöse Vertreter getötet. Die Imame und Muftis in Russland, die den Geistlichen Verwaltungen angehören, müssen entweder selbst beim FSB sein oder bekommen jemanden vom FSB an ihre Seite gestellt, die deren gesamte Aktivitäten kontrollieren. Bei uns in der Ukraine gibt es nichts dergleichen. Bei uns wurde noch nie eine Moschee abgerissen. Es gibt keine Skinheads und Pogrome und keine Ablehnung von Muslimen im Alltag. Das schätzt die muslimische Gemeinschaft.

Als im Donbass diese Welle des Separatismus begann, haben wir uns Imame der Region Donezk und Luhansk getroffen. Ich habe gefragt: Was ist Eure Position? 90 Prozent der versammelten Imame sagten, sie seien auf der Seite der Ukraine. Das sei unsere Heimat. Die gleiche Situation hatten wir auf der Krim. Jetzt gibt es sehr harte Repressionen gegen Muslime auf der Krim. Die Menschen warten im Verborgenen auf die Rückkehr in ein normales freies Land.

Auf der Krim gibt es jetzt eine Trennung – eine offizielle Religionsausübung und eine Religionsausübung im Untergrund. Offiziell kontrolliert dort alles der Staat, unter anderen auch über die Imame. Im Donbass haben wir die gleiche Situation. Es gibt offizielle Geistliche, die vom FSB kontrolliert und gesteuert werden. Ihnen wird gesagt, was sie während der Predigt sagen dürfen und was nicht. Man sagt ihnen sogar, mit wem sie keinen Kontakt haben dürfen. Aber es gibt die Religionsausübung im Untergrund. Die Menschen verstecken sich zuhause, wo sie offen miteinander sprechen und Bücher oder Webseiten lesen, die sie lesen wollen. Dort beten sie, wie sie es wollen.