Kiew, 3. September 2015 – Während einer Pressekonferenz im Ukrainischen Crisis Media Center, die gemeinsam mit dem Projekt „Free Crimea“ organisiert wurde, wies Taras Beresowez auf die Präsentation des Buchs „Annexion: Insel Krim“ hin, die am 11. September auf dem Buchforum in Lwiw stattfindet. „Eigentlich wird es das erste Buchdokumentation, in der ausführlich über die Zeit vom 18. Februar bis 18. März 2014 der Krimannexion berichtet wird. Das Buch beinhaltet wichtige dokumentarische Fakten, für die wir eine Unzahl an Quellen, insgesamt 704, als Grundlage nahmen“, sagte Taras Beresowez, Autor des Buchs und Ideengeber des Projekts „Free Crimea“.
Das Buch wurde von einer großen Expertengruppe zusammengestellt, die unter anderem aus Experten des Zentrums „Free Crimea“ und Journalisten bestand. Für die Artikel in dem Buch wurden 40 Exklusivinterviews geführt – mit ukrainischen und russischen Politikern, sowie mit ausländischen Experten (einschließlich Militärs) – Menschen, die die Ereignisse unmittelbar miterlebten und zustimmten, über ihre persönlichen Erinnerungen zu berichten, was auf der Krim geschah. Unter ihnen sind: Sewgel Musajewa-Borowik, Chefredakteur der Onlinezeitung „Ukrainska Prawda“; Dmitrij Tymtschuk, Parlamentsabgeordneter der Fraktion „Volksfront“ und Leiter des Zentrums für kriegspolitische Untersuchungen; Georgij Logwinskij, Parlamentsabgeordneter der Fraktion „Volksfront“; und Alexander Jankowskij, Chef des Fernseh- und Rundfunksenders bei Radio Swoboda „Krim.Realii“.
Das Buch beinhaltet auch viele neue Materialien, die bisher noch nicht veröffentlicht wurden und beleuchtet die Vorbedingungen der Annexion – viele Fakten und Tendenzen seit 1991, einschließlich unter Nutzung von Geheimdienstquellen.
„Der wesentlichste Schluss, den ich aus all diesen Ereignissen zog, war, dass russische Besatzer dorthin kamen, wo es keine ukrainischen Staatsbürger gab. Leider gab es, wie sich zeigte, keine kritische Masse ukrainischer Bürger auf der Krim“, sagte Alexander Jankowskij. „Es gab Widerstand in der Bevölkerung und es gab Massenkundgebungen, die von dem Madschlis [Anm. Versammlung der Krimtataren] und anderen pro-ukrainischen Kräften am Tag der Übernahme der Werchowna Rada der Krim, für den 26. Februar, organisiert wurden. Aber am 27. Februar kam es zu gewissen Lähmungserscheinungen.“
Für ihn war der Morgen am 1. März ein prägendes Ereignis: „Es war der erste Tag, an dem ich nicht glauben wollte, wie es möglich ist, dass russische Soldaten das Gebäude der Werchowna Rada und des Ministerkabinetts besetzten. Ich hatte gewisse Zweifel und dachte, dass Aksjonow [Anm. heutiger Präsident der Republik Krim, der am 27. Februar 2014 ins Amt kam] dort „Wetterleuchten“ spielt [Anm.: unter den Pionieren der Sowjetzeit eine Art Kriegsspiel] und versucht, mehr Vollmachten zu erhalten. Aber alles wurde klar (zumindest in Simferopol), als am Morgen, gegen sech Uhr „Tiger“ [Anm. gepanzerte Militärfahrzeuge] der Russischen Armee durch Simferopol fuhren“, erinnerte er sich.
Dmitrij Tymtschuk analysierte bereits lange vor den Ereignissen 2014, ab 2008 als es die Aggression Russlands gegen Georgien gab, zusammen mit seinen Kollegen am Zentrum für kriegspolitische Untersuchungen die Wahrscheinlichkeit eines ähnlichen Szenarios für die Ukraine. Nach seiner Aussage gab es schon in jener Zeit Gründe zu einer ernsthaften Sorge. „Als wir auf der Krim arbeiteten, hatten die russischen Geheimdienste bereits enorme Arbeit geleiste“, berichtete er. „Im Zentrum dieser ganzen Destabilisierungs- und Subversivarbeit standen strukturelle Einheiten des FSB [Anm. Russischer Geheimdienst], die dem Stab der russischen Schwarzmeerflotte angehörten. Im Dezember 2009 bat die Ukraine darum, dass diese Einheiten vom Hoheitsgebiet des Landes abziehen, aber nachdem Janukowitsch Präsident wurde, nahmen sie wieder ihre Arbeit auf. Dmitrij Tymtschuk bekräftigte, dass diese Einheiten nicht nur auf der Krim aktiv waren, sondern auch die Tätigkeiten von pro-russischen Organisationen im Süden und Osten der Ukraine koordinierten. Mit ihnen war unter anderem „Oplot“ [Anm. eine Art paramilitärische Organisation, die in Charkiw gegründet wurde] direkt verbunden.
„Während der Zeit von Janukowitsch wurde Russland ein Blankoscheck ausgestellt und so konnte niemand die Aktionen der russischen Geheimdienste mehr kontrollieren“, erklärte er. In Sewastopol befand sich zum Beispiel eine Einheit der Hauptverwaltung für Aufklärung beim Generalstab der Streitkräfte der Russischen Föderation, die sich praktisch direkt neben den ukrainischen Seestreitkräften befanden und die ungehindert Radaranlagen aufstellten und alle Gespräche der Generalität der ukrainischen Seestreitkräfte abhörten.
Dmitrij Tymtschuk und seine Kollegen bauten ein illegales Agentennetz auf, das es ihnen ermöglichte, die Tätigkeiten der russischen Geheimdienste zu überwachen und illegale Bewegungen der russischen Schwarzmeerflotte zu verfolgen. Dank dieser Kenntnisse über die Situation verstanden sie seit Beginn der Ereignisse auf der Krim, dass es sich um eine Spezialoperation handelt.
Laut seinen Schlüssen, unter Berücksichtigung seiner Informationen, die später bekannt wurden, lag der Grund, warum die Krim kampflos übergeben wurde, weniger am Fehlen klarer Befehle aus Kiew, sondern an der fehlenden Bereitschaft des ukrainischen Militärs, offenen Widerstand zu leisten, da sie teilweise mit der Russischen Föderation sympathisierten und fürchteten, Verantwortung zu übernehmen.
„Man muss verstehen, wie die Situation zu diesem Moment war. Wenn man sich erinnert, was in der Ukraine und der Gesellschaft geschah. Wenn es keine Anarchie war, dann doch etwas sehr ähnliches“, sagte Dmitrij Tymtschuk.
Die höchsten Geheimdienstkreise sind zusammen mit Janukowitsch verschwunden. Die verbliebenen Leute waren durch die jüngsten Ereignissen in Kiew verwirrt. „Für mich bleibt es ein Rätsel, warum unsere Geheimdienste und Sicherheitsbehörden, die doch gut informiert waren, bis heute nicht die offizielle Version erzählen, was auf der Krim passierte“, gab Dmitrij Tymtschuk zu.
Er betonte, dass die ausführliche Analyse der Operation zur Annexion der Krim eine wichtige strategische Bedeutung hat, um in Zukunft vor ähnlichen Szenarien in Bezug auf andere Gebiete gewarnt zu sein.
Georgij Logwinskij, Parlamentsabgeordneter der Fraktion „Volksfront“, beriet in jener Zeit Mustafa Dschemiljew, und da er Jurist ist, begann er aktiv mit der rechtlichen Verteidigung der Krimbewohner und kümmerte sich darum, dass die Annexion der Krim für die Russische Föderation entsprechende rechtliche Folgen hat.
„Die Situation der Krimergreifung ist einerseits einzigartig, aber gleichzeitig relativ typisch. Das heißt, wenn wir etwas tiefer analysiert hätten, was um uns herum geschah, wäre das vielleicht nicht passiert. Das Buch, das wir heute vorstellen, ist eine Art Bibel, mit der Schlüsse für das Heute gezogen werden können und das dabei hilft, zu verstehen, wie man so etwas vermeidet“, erklärte er.
„Ich bin davon überzeugt, dass die Geschichte mit der Krim noch nicht zu Ende ist: sie kann als Beginn der Annexion weiterer Gebiete der Ukraine gesehen werden, aber auch die Rückgabe der Kontrolle über die Halbinsel bedeuten. Und es hängt davon ab, wie stark wir unser Land heute verteidigen können, welche Schritte wir machen und welche Strategie wir entwickeln, ob die Krim wieder unter die Kontrolle der Ukraine kommt“, versicherte Georgij Logwinskij.
Das Video der Pressekonferenz auf Ukrainisch und auf Englisch.