Kiew, 24. September 2015 – Die Blockade der Halbinsel führte dazu, dass die Krimfrage zurück auf die Tagesordnung der ukrainischen und internationalen Politik kam. Sie wurde zu einer unangenehmen Überraschung für den russischen Präsidenten – kurz vor seinem Auftritt bei der UN-Generalversammlung und den Verhandlungen über die Erfüllung der Minsker Vereinbarungen. Diese Meinung vertraten Experten während einer Diskussion, die zusammen mit „Free Crimea“ im Ukrainischen Crisis Media Center organisiert wurde.
„Diese Blockade war einerseits eine Antwort darauf, dass das Thema Krim von der ukrainischen Staatsführung ignoriert wird, und andererseits eine Antwort auf die massive Korruption, die bis heute beim Grenzschutz und Zoll herrscht“, erklärte Taras Beresowez, Ideengeber des Projekts „Free Crimea“.
„Der offizielle Handelsumfang wird mit 475 Mio. USD bewertet. Für diese Summe wurden allein seit Anfang 2015 Lebensmittel in die Autonome Republik Krim geliefert. Aber die realen Umfänge kann niemand nennen. Nach unserer Einschätzung sind es mindestens 800 Mio. USD“, sagte Taras Beresowez.
Er merkte an, dass oftmals nicht bekannt ist, wer die Empfänger der Waren sind, die auf das Gebiet der Autonomen Republik Krim importiert werden. Und es kommt häufig vor, dass die LKWs die Krim als Transit über die Meerenge von Kertsch nach Russland nutzen. Bei diesem Schmuggel verdienen alle – sowohl korrupte ukrainische Beamte, als auch Leute von der anderen Seite.
„Es ist vollkommen klar, dass diese Situation absolut unzulässig vor dem Hintergrund der Sanktionen ist, die von den Ländern der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten verhängt wurden. Und es ist gut, dass sich diese Situation jetzt ändert“, sagte Taras Beresowez.
Sergej Taran, Politologe und Direktor des Internationalen Instituts für Demokratie, merkte an, dass die Blockade der Halbinsel die ukrainische Staatsführung dazu zwingt, etwas zu unternehmen. Bereits bei der nächsten Parlamentssitzung werden wahrscheinlich ernstere Rechtsgrundlagen vorbereitet, wonach die Halbinsel aufhört, eine „Grauzone“ zu sein.
„Die Lebensmittelblockade der Krim kommt für Russland zu einem ungünstigen Zeitpunkt, weil sich die gesamte Aufmerksamkeit des Landes auf Syrien konzentriert. Dort läuft gerade jetzt der für Putin wichtigste geopolitische Deal“, erklärte Sergej Taran.
Nach Meinung des Experten besteht das Hauptziel des russischen Präsidenten darin, sich in der Gestalt eines Friedensstifters zu präsentieren, um damit wieder als wichtiger Partner auf das internationale Parkett zurückzukehren. Doch jetzt muss Putin unbequeme Fragen in Bezug auf die Krim beantworten, statt über die besondere Rolle Russlands im Kampf gegen den internationalen Terrorismus zu sprechen. Dabei schließen die Experten die Wahrscheinlichkeit aus, dass sich die Krim zum Gegenstand des Deals bei den Verhandlungen über die Erfüllung der Minsker Abkommen wandelt.
„Putins Problem besteht darin, dass er gegenüber niemanden Ansprüche stellen kann“, erklärte Sergej Taran und ergänzte, dass die Aktion formell nicht von der ukrainischen Staatsführung durchgeführt wird, sondern von Aktivisten, was aus juristischer Sicht völlig legal ist. „Die Ukraine antwortet jetzt wie ein Spiegelbild auf den hybriden Krieg von Russland durch eine hybride Blockade der Krim. Das ist natürlich gut, weil die Ukraine erstmals seit langer Zeit das Thema Krim aufgreift […] und Putin nicht weiß, wie er aus dieser Situation wieder herauskommt.“
Nach Meinung der Experten kann die Krimfrage nicht als Gegenstand des Deals bei den Verhandlungen in Bezug auf die Erfüllung der Minsker Vereinbarung genutzt werden. „Wenn es eine solche Handelsoption gäbe, hätte sie Putin genutzt. Aber Putin wird sich aus einem einfachen Grund nicht darauf einlassen: das würde Zugeständnisse bedeuten“, erklärte Sergej Gromenko, Krimhistoriker und Mitarbeiter am Ukrainischen Institut für Nationalandenken. Außerdem merkte Sergej Taran an, dass bedeutende Personen des öffentlichen Lebens einem solchen Kompromiss absolut nicht zustimmen würden, auf deren Initiative die Blockade der Halbinsel begann.
Nach Meinung der Experten ist es wichtig, dass die Blockade eine zivile Initiative bleibt, wobei sich die verschiedensten Gesellschaftsorganisationen einreihen sollten. „Es ist wichtig, dass unsere Gesellschaft die internationale Politik durch ihre Aktionen bewusst beeinflusst. Das ist für die Ukraine einzigartig“, betonte Sergej Taran. Der Experte vermutet, dass im Fall eines Erfolgs bei der Krimblockade die Aktivisten mit einer Blockade von Transnistrien weitermachen könnten.
„Wir verstehen sehr gut, dass jede Blockade dann effektiv ist, wenn sie zum einen langfristig ist, und zum anderen kombiniert wird“, sagte Taras Beresowez und ergänzte, dass die Aktivisten dafür zumindest eine informelle Unterstützung der ukrainischen Staatsführung brauchen. Er erinnerte daran, dass es der Russischen Föderation bereits gelang, die Abhängigkeit der Krim von Lieferungen aus der Ukraine auf 60 Prozent zu verringern, wobei die Abhängigkeit der Halbinsel von Wasser und Strom vorerst noch hoch bleibt. Deshalb könnte eine breite Stromabschaltung dazu führen, dass bei den Militärobjekten der Russischen Föderation auf der Krim bedeutender Schaden entsteht. Allerdings merkten die Experten an, dass dieser Schritt derzeit als äußerste Maßnahme betrachtet wird.
Sergej Gromenko wies darauf hin, dass die Halbinsel die Warenblockade der Krim von 1918 während des „Zollkriegs“ zwischen der Krimregierung von Matsej Sulkewitsch und der Regierung von Pawlo Skoropadskyj drei Monate lang aushielt. Nach Meinung des Historikers könnte die derzeitige Blockade für den gewünschten Effekt doppelt so lange dauern. „Der Winter wird zeigen, ob die Blockade von Anfang an sinnvoll war“, sagte Sergej Gromenko. Nach Meinung des Historikers wird Putin auf die Aktion mit verschärften Repressalien reagieren: „Er hat nichts anderes, als die “Daumenschrauben” anzuziehen, denn seine Psyche will nichts anderes anerkennen […] Deshalb glaube ich, wird er diesen äußeren Druck dazu benutzen, um die Repressionen innerhalb der Russischen Föderation zu erhöhen. […]. Kurzfristig ist nichts gutes für die Bevölkerung auf der Krim erkennbar, aber vielleicht ist es auch das notwendige kleinere Übel, das die Ukraine hinnehmen muss, um die Krimfrage erneut auf die Tagesordnung zurückzubringen“, ergänzte er. Nach Meinung des Historikers ist es für die Ukraine sehr wichtig, in nächster Zeit eine gemeinsame Strategie zur Rückkehr der Halbinsel zu entwickeln.
Video der Diskussion auf Ukrainisch und Englisch.