Timothy Snyder: Die Tragödie von Babyn Jar und ihre Lehren für die Ukraine

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In dieser Woche sind es 75 Jahre her seit der Tragödie in der Schlucht von Babyn Jar – der Erschießung von rund 34.000 Juden in Kiew. Der amerikanische Historiker Timothy Snyder hat während eines Briefings im Ukraine Crisis Media Center seine Sicht der Lehren der Geschichte dargelegt.

Die Ursachen

Der Krieg selbst. Timothy Snyder zufolge konnte es keinen Babyn Jar und keine Tötung ukrainischer Juden ohne jene besondere Art des Krieges geben, wie es der Zweite Weltkrieg war. “Hitlers Ziel war, die Ukraine zu erobern, denn sie spielte in seinem Kopf eine besondere Rolle. Wenn er vom ‘Lebensraum’ sprach, so dachte er dabei in erster Linie an die Ukraine. Daher wurde der Krieg im Westen mit ganz anderen Methoden als im Osten geführt. Hier handelte es sich um einen Vernichtungs- und Kolonialisierungs-Krieg”, sagte Snyder.

Die Ideologie. Hitlers Ideologie zufolge konnte Deutschland gerade wegen der Juden und ihrer weltweiten Verschwörung nicht siegreich werden. Alles was dem im Wege stand – Kommunismus, Kapitalismus oder Christentum – jedwede Regeln und ethische Normen –  kam nach Hitlers Ansicht gerade von den Juden.

Die Rechtlosigkeit. Um die Juden zu vernichten, mussten sie jenseits des Gesetzes gestellt werden. Mit jeder nächsten Besetzung eines Landes und der Liquidierung seiner Staatlichkeit wurden die Aktionen gegen die Juden zunehmend radikaler.

Babyn Jar – ein Präzedenzfall der Massenmorde

Snyder betonte, dass gerade Babyn Jar Nazi-Deutschland auf die Tötungsmethode brachte. Denn dazu habe es bis dahin keinen Plan gegeben. “Jetzt haben sie (die Nazis) verstanden, dass Massentötungen möglich sind, dass sie derartiges tun können. Ende September 1941 haben sie ein Modell dafür: Erschießungen, die von den Deutschen mit Hilfe der einheimischen Bevölkerung durchgeführt werden. So haben sie 95 Prozent der Juden umgebracht, die sich unter ihrer Kontrolle auf dem besetzten Territorium der Sowjetunion befanden. Auschwitz war später, die Gaskammern waren nur eine andere Art der Technik; gerade Babyn Jar hat gezeigt, dass Holocaust möglich war”, erklärte der Historiker.

Erinnern und Vergessen

Snyder ist überzeugt, dass die Bürgergesellschaft stets die Vergangenheit im Gedächtnis bewahrt. “Da wo eine Bürgergesellschaft besteht, gibt es stets Menschen, die sich für die Geschichte interessieren. Eine funktionierende Bürgergesellschaft forscht immer nach der Wahrheit über die Vergangenheit. Für die Ukraine ist das heute aktuell. Das Gedenken an die Tragödie von Babyn Jar zeugt davon, dass in der Ukraine eine funktionierende Bürgergesellschaft besteht. Wenn diese irgendwann verschwindet, werden wir es daran merken, dass die Arbeiten über Babyn Jar verschwinden”, sagte er.

Nach Snyders Ansicht hat der Holocaust eine universelle Dimension, ihn kann man nicht ausschließlich im Rahmen der Geschichte eines Landes betrachten. “Kritik und eine grundlegende Analyse sind der bessere Weg für den Aufbau einer Nation, statt Mythen zu schaffen”, so der Experte. Er erinnerte daran, dass der Metropolit der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche Andrej Scheptyzkyj die Notwendigkeit bekräftigte, seinem Nächsten Hilfe zu leisten. Gerade darauf beriefen sich fast alle, die Juden während des Zweiten Weltkrieges retteten. “Das vermittelt uns die Vorstellung darüber, was es bedeutet dein Nächster zu sein. Das vermittelt uns aber auch die Vorstellung darüber, was der Begriff Nation bedeutet. Wenn man den Holocaust als eine Geschichte von jemandem anderen (als seinem Nächsten) betrachtet, dann wird es keine inklusive politische Nation geben. Wenn man den Holocaust aber als eine Geschichte des Mitwirkens sieht, wobei die Menschen sich besser oder schlechter verhielten, dann besteht die Chance für den Aufbau einer politischen Nation”, betonte Snyder.

Holocaust vs. Holodomor

Wie im Falle des Holocausts, so ist auch im Falle des Holodomors die Rede von Parteistaaten. Ihre Ideologien brauchten die Schaffung eines Feindbildes: das waren die Juden beziehungsweise die Großbauern. Die Politik der Staaten war gegen die schutzlosen Gruppen gerichtet. Der Unterschied zwischen den beiden Phänomenen bestand darin, dass der Holocaust die Vernichtung aller Juden, während der Holodomor die Bestrafung, aber keine Vernichtung aller Ukrainer zum Ziel hatte. “Die Menschen im Westen, und zuweilen auch in der Ukraine selbst, können es nicht begreifen, wie schrecklich der Holodomor war. Nicht nur für die Menschen, die Opfer der gewaltsamen Hungersnot wurden, sondern noch schlimmer für die Überlebenden. Es ist nicht richtig zu sagen, dass etwas schlimmer als etwas anderes war. Man muss den Holocaust und den Holodomor so in Erinnerung behalten wie sie waren”, so Snyder.

Es gibt keine Geschichte der Nationalstaaten, sondern nur die von Imperien

Die Ukraine war für Hitler und Stalin ein Territorium, das kolonisiert werden sollte. “Die Konfrontation der deutschen und der sowjetischen Armeen wegen der Ukraine war der letzte imperialistische Krieg. Der Imperialismus endete mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges”, sagte der amerikanische Historiker. Ihm zufolge hat Europa nach dem Krieg nichts dazugelernt. Die Europäer haben erst später etwas gelernt, nachdem sie ihre Kolonien in Asien und Afrika verloren hatten. Danach begannen sie über die Schaffung der EU nachzudenken. Das gleiche trifft auch für Deutschland zu, als es die Ukraine im Zweiten Weltkrieg verloren hatte. “Die EU ist jenes Gebilde, dem die Länder beitreten, bei denen ein Zustand der ‘Ernüchterung nach imperialem Rausch’ eingetreten ist. Es ist das, worüber die Länder übereingekommen sind, als sie es begriffen haben, dass ein Imperium sich nicht mehr wiederherstellen lässt”, erklärte Snyder.

Auch Europa braucht die Ukraine

Nach dem Jahr 1991 eröffnete sich für die Länder Osteuropas eine neue Variante. “Das Wunder der Europäischen Union besteht darin, dass sie Länder vereint, die früher Metropolien waren, und Länder, die vorher Bestandteile von Imperien waren. Und hier sind sie alle gleich. Die Ukraine ist ein Testfall, ob ein ehemaliger Bestandteil eines Imperiums zum europäischen System überwechseln kann. Auch Europa braucht die Ukraine. Die EU soll sich erweitern. Das liegt in der Natur des europäischen Projekts”, meint Snyder.

Trump, Putin und die Gesellschaft

Donald Trump, wie auch Wladimir Putin schaffen um sich herum eine imaginäre Realität. In Russland ist das bereits zur Realität für den gesamten Staat geworden. Es handelt sich um ein allgemeines Phänomen, das alle bedroht. “Das ist stark mit dem Faschismus verbunden, denn der geht von der Behauptung aus, dass es keine empirische Realität gibt, keinen kontinuierlichen Fortschritt, es gibt nur ‘die leuchtende Zukunft’ und Spiele für das Volk”, so Snyder. Ihm zufolge ist Trump kein Businessman, sondern ein Fernsehstar. Er mache auch antisemitische und rassistische Erklärungen. “Trump möchte gleich wie Putin sein. Denn der hat bereits Geld und Macht”, sagte Snyder abschließend.