An erster Stelle steht gegenseitige Hilfe: Wie das Leben in Nowotroizk und Mariupol aussieht

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Kiew, 27. Oktober 2016 – Die Kampfhandlungen dauern in der Ostukraine bereits fast zweieinhalb Jahre an. In einigen Bereichen der Kontaktlinie gibt es täglich Scharmützel und trotzdem sind viele Lokalbewohner in ihre Häuser zurückgekehrt, um dort ein normales Leben zu leben. Andere flüchteten aus den besetzten Gebieten und versuchen sich langsam in die neuen Gemeinden von frontnahen Ortschaften und Mariupol zu integrieren. Uljana Tokarewa berichtet, wie das Leben in frontnahen Ortschaften aussieht und welche Fragen die Menschen am meisten quälen. Sie ist Vorsitzende des Komitees für Sozialpolitik, Medizin und Ökologie beim „Entwicklungsfond von Mariupol“. Außerdem berichtete Iryna Perkowa, Koordinatorin des Crisis Media Centers in Mariupol. Die Skypeschaltung fand im Ukraine Crisis Media Center in Kiew im Rahmen des Projekts „Sprecher eines friedlichen Lebens“ statt, das mit Unterstützung des deutschen Außenministeriums umgesetzt wird.

Nowotroizk: Leben unter Beschuss

Nowotroizk liegt auf halbem Weg zwischen Wolnowacha und Dokutswchajewsk, faktisch direkt an der Kontaktlinie. Um die Situation in der Ortschaft zu sehen, fuhr Iryna Perkowa vor Ort und unterhielt sich mit den lokalen Abgeordneten des Dorfrats, mit dem Schuldirektor Valerij Iwanow und mit der Schulpsychologin Tetjana.

Geschosse in Wohnvierteln sind normaler Alltag

Derzeit leben in der Ortschaft zirka 8.000 Personen, einschließlich der Binnenflüchtlinge aus den besetzten Gebieten. Die Mehrheit, die seit Kriegsbeginn an einen sicheren Ort flüchtete, kehrte zwischenzeitlich zurück. Aber die Kampfhandlungen dauern immer noch an, trotz der neuesten Minsker Vereinbarungen.

Laut Angaben des Schuldirektors wurde am 14. Oktober die ganze Nacht über geschossen, einschließlich mit Artillerie. Inzwischen beruhigte sich die Situation wieder etwas, doch gleichzeitig gibt es praktisch jeden Tag kleinere Scharmützel mit Gewehrfeuer.

Vor einem Jahr gab es eine Tragödie im Ort: eine ganze Familie verlor durch einen Granattreffer ihr Leben. Allerdings sind Geschosse in Wohnvierteln normaler Alltag in der Ortschaft.

Am stärksten litt das freie Gelände, wo sich die Schule Nr. 2 befindet. Seit 2014 gab es dort keine Feuerpause. Durch den Beschuss litten die Häuser und Privatfahrzeuge von über 100 Bewohnern.

Valerij Iwanow berichtete, dass der Dorfrat einem Besitzer eines beschädigten Hauses die einmalige symbolische Summe zur Reparatur von 1.000 Hryvna (umgerechnet zirka 35 Euro) gewährte. Es gibt auch Stiftungen und Hilfsorganisationen, die Baumaterial zur Verfügung stellen.

Hohe Preise, Warteschlangen bei Banken und Mangel an Bargeld in Bankautomaten

Nowotroizk leidet nicht nur unter dem Beschuss, sondern auch wegen des großen Menschenstroms bei den Ein- und Ausreisepunkten. Laut Angaben von Valerij Iwanow sind die Preise vor allem aufgrund der hohen Nachfrage gestiegen. Tagsüber kommen Leute aus den nicht von der Ukraine kontrollierten Gebieten und kaufen in großem Umfang Nahrungsmittel, um dann daran zu verdienen. Ein weiteres Problem sind die Rentner aus den besetzten Gebieten, die an den Bankautomaten auf einmal hohe Summen abheben. Deshalb gibt es lange Warteschlangen und oft fehlt es an Bargeld.

Flüchtlingskinder werden in die lokale Gemeinschaft integriert

An der Schule Nr. 4 werden 328 Kinder unterrichtet, davon sind 12 Kinder von Flüchtlingen aus den besetzten Gebieten. An der Schule gibt es keinen Luftschutzkeller, weshalb sie bei Beschuss im benachbarten Gebäude Deckung suchen.

„Im Vergleich zum Beginn des Vorjahres kamen mehr Kinder zurück“, berichtete die Schulpsychogin Tetjana. Nach ihren Angaben sind die Flüchtlingskinder bereits in die lokale Gemeinschaft integriert: viele von ihnen fühlen sich nicht in einer „fremden Stadt“, sondern sind bei Freunden oder Verwandten untergekommen. „Wir arbeiten mit ihnen vor allem individuell. Auch mit den Eltern. Zu Beginn gab es im Unterricht das Thema „Ein Neuer in der Klasse“, erzählte sie. Zwischen den Kindern gibt es keine Konflikte aus ideologischen Gründen.

Mariupol: An erster Stelle steht gegenseitige Hilfe

In Mariupol leben zirka eine halbe Million Menschen; davon sind über 100.000 Flüchtlinge. Im Juni 2014 entschied Mariupol auf dem Niveau der Stadtbehörden und Selbstverwaltung, jeden aufzunehmen, der aus dem Bereich der Kampfhandlungen floh.

„Wir dachten, dass es nicht für lange und nur vorübergehend sei und dass das alles schnell zu Ende wäre. Sehr viele Freiwillige, Gesellschaftsorganisationen und das Sozialamt haben sich zusammengeschlossen. Sehr viele Lokalbewohner brachten Essen, Kleidung und stellten Wohnraum zur Verfügung, der leer stand“, berichtete Uljana Tokarewa, Vorsitzende des Komitees für Sozialpolitik, Medizin und Ökologie beim „Entwicklungsfond von Mariupol“.

Flüchtlinge werden in die Gesellschaft von Mariupol integriert

Nach Angaben der Komiteevorsitzenden fühlten sich die Flüchtlinge von Anfang an in Mariupol relativ wohl, da es eine Stadt in der gleichen Region ist. Außerdem kamen die meisten bei Verwandten oder Freunden unter, weshalb es für sie keine fremde Stadt ist. Die Plätze an Schulen und Kindergärten reichten auch aus.

„Die Menschen gewöhnen sich an den Gedanken, dass sie ihr Leben verändern müssen und dass sie nicht in ihre Häuser in den besetzten Gebieten zurückkehren können. Sie werden bleiben, um hier zu leben. Für viele ist diese Bewusstwerdung ein Schlüsselmoment, denn bisher verstehen sie sich nicht als Bürger von Mariupol, aber ohne diese Verständnis können sie sich nicht weiterentwickeln“, erklärte Uljana Tokarewa.

Zwischen den Einwohnern von Mariupol und den Flüchtlingen gibt es praktisch keine Abgrenzung in der Art „wir – sie“. Das einzige, was eine gewisse Spannung erzeugt, ist, dass sich die meisten humanitären Programme ausschließlich auf Flüchtlinge richten. Deshalb fühlen sich die Einheimischen, die sich ebenfalls in einer prekären Lage befinden, etwas vor den Kopf gestoßen, weil sie auf sich allein gestellt sind.

„Wir haben ständig Kontakt zu internationalen Missionen und bitten sie darum, dass sich die Programme an die gesamte Bevölkerung von Mariupol richtet“, sagte Uljana Tokarewa.

Die dringendsten Fragen: Arbeitsplätze, Wohnraum und medizinische Versorgung

Trotz aller Anstrengungen der Freiwilligen und Lokalbehörden, bleiben mehrere Probleme der Binnenflüchtlinge bisher ungelöst. Die dringendsten Fragen sind Arbeitsplätze, Wohnraum und die medizinische Versorgung.

„Es geht nicht darum, dass die Stadt nicht helfen will, vielmehr reichen die Ressourcen einfach nicht aus, die in das Budget für das ganze Gebiet fließen und nicht nach Mariupol zurückkommen. Und das gesamte Gesundheitswesen, das jetzt zusätzlich die Flüchtlinge betreut, wird aus dem Stadtbudget finanziert“, erklärte Uljana Tokarewa.

Vor dem Krieg befanden sich die besten medizinischen Zentren mit moderner Ausstattung in Donezk. Doch jetzt sind sie nicht zugänglich und Mariupol übernimmt die Rolle von Donezk, weshalb die Ressourcen nicht reichen. Zudem gibt es auch Probleme mit den Warteschlangen vor Banken und dass es an Bargeld in den Bankautomaten mangelt.

Die Komiteevorsitzende merkte an, dass diese Probleme nicht verschwiegen werden. All diese Fragen, sowie Fragen zur weiteren Integration, sind ständig im Zentrum der Aufmerksamkeit von Gesellschaftsorganisationen. Kürzlich wurden sie bei dem Forum „Mariupol – Stadt der Solidarität“ besprochen, das in Zusammenarbeit mit der Verwaltung des UN-Hochkommissariats für Flüchtlingsfragen durchgeführt wurde.

Die Ukraine hat keine Strategie, um die Flüchtlinge und vorübergehend besetzten Gebiete zu integrieren

„Weltweit gibt es die Praxis, insbesondere in Moldawien und Georgien, dass die Regierung darüber nachdenkt, wie nach Ende des Konflikts nicht nur die Menschen, sondern auch die zurückgewonnenen Gebiete integriert werden, damit sie wieder Teil des Landes werden. Es ist gut, dass wir inzwischen ein Ministerium für Fragen zu den vorübergehend besetzten Gebieten und den Binnenflüchtlingen haben, doch fehlt es an einer Strategie zur Integration und was weiter werden soll“, sagte Uljana Tokarewa.

Wenn man die Erfahrung von Georgien analysiert, zeigt sich, dass die wohl wichtigste Komponente einer solchen Integration darin besteht, die Menschen mit Wohnraum zu versorgen.

„Nur wenn eine Familie über eine Wohnung verfügt, empfindet sie Stabilität und Boden unter den Füßen, mit der Möglichkeit, sich von dort aus weiterzuentwickeln“, erklärte Uljana Tokarewa.

In Georgien wurden den Flüchtlingen Kredite angeboten, woran sich der Staat zu 50 Prozent beteiligte. In Moldawien nahm die Regierung einen Sonderkredit bei der EU auf.

„In der Ukraine gibt es um ein vielfaches mehr solcher Menschen, aber nicht alle brauchen einen Kredit. Man sollte mit jenen anfangen, die am dringendsten Wohnraum benötigen, und davon jene aussuchen, die einen Kredit aufnehmen können“, erklärte sie und weiter: „Solche Hilfsprogramme sind die Basis der Integrationsstrategie.“

In Mariupol entsteht ein Netz aus Hilfszentren für Flüchtlingsfamilien

Bereits 2014 wurden Zentren als „Sicherer Ort“ zur Unterstützung von Familien gegründet, die aus dem Kampfgebiet flüchteten. Diese entstanden in Zusammenarbeit mit dem Kinderhilfswerk der UN und dem Dänischen Rat für Flüchtlingsfragen. Heute gibt es fünf solcher Zentren.

„Gerade arbeiten wir an einem weiteren Platz. Er soll sich im Bezirk Primorskij befinden, einem der schwierigsten Orte, weil dort der Beschuss zu hören ist. […] Viele Gesellschaftsorganisationen versuchen auch, Räume zu schaffen, wohin sich Familien mit all ihren Problemen wenden können. Manchmal auch einfach, um darüber zu sprechen, was sie sich fühlen“, sagte Uljana Tokarewa abschließend.