Vom 18. bis 20. Februar erinnert die Ukraine an die drei blutigsten Tage auf dem Maidan, dem Platz der Unabhängigkeit in Kiew, während der Proteste im Jahr 2014. Damals wurden über 100 Menschen getötet. Serhij Horbatjuk leitet die spezielle Ermittlungsabteilung bei der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft, die den “Fall Maidan” untersucht. Horbatjuk berichtete in einem Interview für den ukrainischen Sender TVI über den Stand der Ermittlungen und darüber, was sie behindert. Eine Zusammenfassung von Ukraine Crisis Media Center:
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Die Frage, die die ukrainische Öffentlichkeit und die internationalen Partner der Ukraine vor allem interessiert, ist, ob der damalige Präsident Viktor Janukowtsch befohlen hatte, auf die Demonstranten zu schießen. Vor kurzem ist in Kiew ein Prozess gegen den nach Russland geflüchteten Janukowytsch zu Ende gegangen, bei dem er in Abwesenheit wegen Hochverrats zu 13 Jahren Haft verurteilt wurde. Die Richter urteilten, Janukowytsch habe Russland Beihilfe zur Führung eines Angriffskrieges gegen die Ukraine geleistet und nach seiner Absetzung im Februar 2014 die Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch Russland begünstigt. Aber Beweise für eine Beteiligung Janukowytschs an den Schüssen auf dem Maidan kamen in dem Verfahren nicht vor.
Auf einer vor kurzem in Moskau abgehaltenen Pressekonferenz behauptete Janukowytsch erneut, dass alle Gebäude, auf denen sich die Scharfschützen im Februar 2014 befunden hätten, damals unter der Kontrolle der “Opposition” gestanden hätten. Er betonte, er habe damit nichts zu tun gehabt. Horbatjuk sagte im Interview für TVI, da Janukowytsch des Mordes verdächtigt sei, seien seine Aussagen mit gewisser Skepsis zu betrachten. “Wenn er Beweise für seine Unschuld haben würde, dann könnte er in die Ukraine kommen und sich verteidigen”, unterstrich Horbatjuk.
Im November 2016 wurde Janukowytsch, zugeschaltet per Videokonferenz, von einem Kiewer Bezirksgericht im “Fall Maidan” als Zeuge verhört. Dabei ging es um die Anklage von fünf Angehörigen der inzwischen aufgelösten Spezialeinheit “Berkut”, denen vorgeworfen wird, am 20. Februar 2014 auf dem Maidan Menschen erschossen zu haben. Auf einer Pressekonferenz erklärte Janukowytsch später, der Verdacht beruhe nicht auf tatsächlichen Umständen. Er sprach von Fälschung und betonte, er habe dafür Beweise. Doch diese legte Janukowytsch bisher nicht vor. “Es ist sehr schwer, eine Schuld nachzuweisen, denn diejenigen, denen Janukowytsch Befehle gab, befinden sich auch in Russland”, so Horbatjuk. Es sei unmöglich, sie zu befragen. Das sei ein ganzer Komplex aus indirekten Beweisen, Berichten und Telefonaten während dieser Ereignisse, auf die Reaktionen fehlen würden.
Horbatjuk sagte in diesem Zusammenhang, wenn Janukowtysch als Präsident diese Befehl nicht erteilt hatte, dann hätte er die Sicherheitsbeamten bestrafen müssen, die die Ereignisse so weit hätten kommen lassen. “Er hatte alle Vollmachten, um schnell zu reagieren”, so Horbatjuk. Ihm zufolge gelte Janukowytsch als Verdächtiger. Erst ein Gericht könne ihn nach der Erbringung von Beweisen durch Ermittler und Staatsanwälte schuldig sprechen.
Können die flüchtigen Verdächtigen bestraft werden?
Viele der, die verdächtigt werden, auf dem Maidan Demonstranten erschossen zu haben, befinden sich längst in Russland. Horbatjuk sagte: “Nach 106 Personen wird gefahndet. Es gibt Informationen darüber, wo sich Angeklagte in der Russischen Föderation befinden. Doch das sind inoffizielle Angaben, denn die russische Generalstaatsanwaltschaft, an die wir Auslieferungsgesuche übermitteln, weigert sich, sie auszuliefern.”
Horbatjuk zufolge hat die Ukraine Russland gebeten, den betroffenen Personen wenigstens eine Mitteilung der ukrainischen Behörden zuzustellen, damit sie darüber informiert sind, welcher Verdacht gegen sie vorliegt. Auch habe die Ukraine Russland gebeten, die betroffenen Personen zu vernehmen, damit sie sich zu den ihnen vorgeworfenen Straftaten äußern. Doch Russland weigere sich mit der Begründung, das “schadet der nationalen Sicherheit”, so Horbatjuk.
Warum sind einige Verdächtige immer noch im Dienst?
Laut Horbatjuk sind noch etwa drei Dutzend Sicherheitsbeamte, die im Verdacht stehen, Verbrechen auf dem Maidan verübt zu haben, in den Behörden tätig, rund zehn davon auf leitenden Positionen. Warum dem nicht nachgegangen wird, beunruhigt nicht nur die Familien der Opfer, sondern auch die ganze ukrainische Öffentlichkeit.
“In jenen Tagen waren ungefähr 20.000 Sicherheitsbeamte auf den Straßen von Kiew. Darunter befinden sich sowohl Verdächtige als auch Zeugen. Sie haben gesehen, wer geschossen hat”, sagte Horbatjuk. Doch nur wenige hätten als Zeugen ausgesagt, und das auch nur unter Androhung, zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen zu werden. Mit der Tatsache, dass sie immer noch im Dienst seien, wolle die Führung des Innenministeriums zu verstehen geben: Geschätzt würden die Jungs, die treu dienen, und die Ermittlungen seien nicht so wichtig. Horbatjuk meint, Verdächtige würden gedeckt, weil die Leiter der Sicherheitsbehörden ihre “manuelle Kontrolle” über das System aufrechterhalten wollten.
Zum Beispiel gelten der Leiter der Abteilung für öffentliche Sicherheit der Nationalen Polizei und sein Stellvertreter im “Fall Maidan” als Verdächtige, und die Staatsanwaltschaft hat beim Gericht Anklage gegen den Leiter der Abteilung für öffentliche Sicherheit der Nationalgarde eingereicht. “Das heißt, drei Personen, die für die öffentliche Sicherheit in der Ukraine verantwortlich sind, werden verdächtigt, auf dem Maidan Verbrechen begangen zu haben, wo es mehr als 300 Geschädigte gibt, einschließlich der Organisation von Morden. Hinter den Kulissen heißt es: ‘Wenn es ein Urteil gibt, dann werden sie von ihren Pflichten befreit. Solange das nicht der Fall ist, braucht das System sie noch'”, sagte Horbatjuk gegenüber TVI.
Warum kommen die Fälle nicht vor Gericht?
Damit die Fälle einen Abschluss vor Gericht finden, sind Änderungen an der ukrainischen Gesetzgebung erforderlich. Gegenwärtig kann die Generalstaatsanwaltschaft kein Material bezüglich der Strafverfahren im “Fall Maidan” an Gerichte übergeben, weil zunächst das ukrainische Parlament Änderungen zum Gesetz über Verfahren bei Abwesenheit des Angeklagten beschließen muss. Denn das Problem ist, dass sich die Verdächtigen vor der ukrainischen Justiz in der Russischen Föderation verstecken. Daher muss das Verfahren gegen sie in deren Abwesenheit geführt werden.
Nach geltendem Recht müssen Verdächtige zur internationalen Fahndung ausgeschrieben werden, damit in deren Abwesenheit gerichtliche Untersuchungen vorgenommen werden können. Doch Interpol hat beispielsweise keine Fahndung gegen den Ex-Präsidenten Viktor Janukowytsch und seine Komplizen ausgeschrieben, mit der Begründung, es könnten politische Gründe für eine Strafverfolgung vorliegen.
Horbatjuk sagte, im Zusammenhang mit dem neuen Staatlichen Ermittlungsbüro, das im November 2018 seine Arbeit aufgenommen hatte, hätten die bisherigen besonderen Regelungen bei Verfahren in Abwesenheit ihre Geltung verloren. “Dementsprechend besteht jetzt keine Möglichkeit für einen Prozess”, sagte er. Um diese Blockade zu beseitigen, müsse das ukrainische Parlament Änderungen zum Gesetz über Gerichtsverfahren in Abwesenheit des Angeklagten annehmen.