Ein Jahr im Amt: Präsident Selenskyjs Pressekonferenz

Genau ein Jahr nach seiner Amtseinführung hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am 20. Mai eine Pressekonferenz abgehalten. Die Journalisten stellten Fragen zur Innenpolitik, zum Verhältnis zu den Oligarchen und zur Arbeit innerhalb seines Teams, aber auch zu vielen anderen Themen. Hier die wichtigsten Antworten des Präsidenten, zusammengefasst vom Ukraine Crisis Media Center:

Unterschiedliche Bilanzen

Nach Abschluss seines ersten Amtsjahres genießt Präsident Wolodymyr Selenskjy das Vertrauen von 57 Prozent der Bürger. Das geht aus einer Umfrage der Gruppe “Rating” hervor, die vom 12. bis 13. Mai 2020 durchgeführt wurde.

Eine Befragung unter Experten und Journalisten liefert jedoch weniger positive Zahlen. Laut einer vom 8. bis 15. Mai 2020 von der Ilko-Kutscheriw-Stiftung “Demokratische Initiativen” durchgeführten Studie bewerten Experten Selenskyjs Effektivität auf einer 10-Punkte-Skala mit 3,1 Punkten. Etwas positiver fällt die Bewertung der Zusammenarbeit mit dem Parlament aus. Am schlechtesten wird die Personalpolitik des Präsidenten mit nur 2,1 von 10 Punkten bewertet.

Die wichtigsten Erfolge des Präsidenten sind den Experten zufolge die Verabschiedung des Gesetzes über den Handel mit Agrarland sowie des neuen Bankengesetzes, aber auch die Freilassung ukrainischer Gefangener aus Russland.

Über den Donbass und Russland

Auf der Pressekonferenz sprach Selenskyj auch über die Lage im Donbass. Eine Waffenruhe sei ein schwieriger Prozess. Er habe die ukrainische Armee nie aufgefordert, feindliches Feuer nicht zu erwidern. “Ich möchte der Welt zeigen – und das tun wir jetzt, dass wir eine sehr starke Armee haben, dass wir nicht provozieren, dass wir aber um unser Land kämpfen. Wenn man uns beschießt, werden wir antworten, aber wir werden nicht als erste schießen”, so Selenskyj.

Er fügte hinzu: “Wenn die andere Seite einfach aufhören würde zu schießen, gemäß unseren Minsker Vereinbarungen und den Normandie-Vereinbarungen, dann wäre alles vorbei.” Doch die von Russland unterstützten Kämpfer wüssten dann nicht, was mit ihnen passieren würde. “Allein die Russische Föderation hat Einfluss auf sie”, unterstrich der ukrainische Präsident.

Über das russische Militär in Donbass sagte er, es gebe dort Russen, auch Ukrainer, die einen zweiten Pass angenommen hätten, aber auch von Russland unterstützte Kämpfer. “Wir sehen, dass dort auch russische Fallschirmjäger sind”, betonte er und fügte hinzu: “Wir wissen, woher die Befehle kommen.”

Über die Oligarchen

Nach seinem Amtsantritt wurde Selenskyj oft vorgeworfen, vom Oligarchen Ihor Kolomojskyj abhängig zu sein. Doch mit der Zeit, vor allem nach der Verabschiedung des neuen Bankengesetzes, wurde klar, dass der Präsident bemüht ist, gleiche Distanz zu den verschiedenen Finanzgruppen und Oligarchen zu wahren.

Selenskyj sagte: “Ich baue Beziehungen zu Menschen auf, wie ich es kann und wie ich es will. Solange ich die Beziehungen so aufbaue, wie ich es will, werde ich unabhängig von Finanzgruppen und Oligarchen sein. Ich bin kein Lobbyist ihrer Interessen. Sie können mich nicht drängen, diese oder jene Person in Ämter zu bringen. Ich denke, dass sie das auch gar nicht tun wollen, oder Angst davor haben, oder verstehen, dass es keinen Sinn macht, mir so etwas anzubieten.”

Weiter sagte der Präsident, dass er mit den Oligarchen über Investitionen in die von Kiew kontrollierten Gebiete des Donbass spreche. “Ich rede mit ihnen und sie sind bereit, Geld zu investieren. Ich spreche mit Unternehmen und Oligarchen über den Bau von Krankenhäusern. Was kann ich im Gegenzug für sie tun? Nur gleiche Regeln für alle aufstellen. Ich möchte, dass sie nach dem Gesetz leben und arbeiten.”

Über umstrittene Entscheidungen und Personalmangel

Oft wurde Selenskyj, wegen seiner Personalentscheidungen kritisiert. So wechselte innerhalb eines Jahres zwei Mal die Regierung, und im Mittelpunkt eines Skandals um eine mögliche Vergabe von Posten stand der Leiter des Präsidenten-Büros, Andij Jermak. Die Journalisten fragten Selenskyj, von welchen Prinzipien er sich bei Personalentscheidungen leiten lasse. “Jermak ist nicht Pate, Jermak ist eine Vertrauensperson”, sagte der Präsident und versicherte, er würde niemals Paten seiner Kinder oder ehemalige Freunde aus dem Militärs in Ämter berufen.

Zu den Journalisten sagte Selenskyj: “Während Sie mich zitierten, wonach es in der Staatsmacht neue Gesichter geben soll, fragten Sie mich, warum der Generalstaatsanwalt vorher nicht in der Generalstaatsanwaltschaft tätig war.” In diesem Zusammenhang räumte Selenskyj ein, dass Personalmangel ein großes Problem sei. “Ich kann keinen guten Kulturminister finden”, sagte er und betonte, sich diesbezüglich an die Kulturschaffenden des Landes gewandt zu haben. Ferner könne er keinen Bildungsminister und keinen Energieminister finden. Er beklagte, egal wen er aussuche, würden die Medien gleich schreiben, die Person stehe einem Oligarchen nahe – entweder Rinat Achmetow, Ihor Kolomojskyj oder Viktor Pintschuk.

Über den Fall Scheremet und Innenminister Awakow

Im ersten Jahr von Selenskyjs Amtszeit gab es mehrere Festnahmen unter Freiwilligen und Sanitätern, die des Mordes an dem Journalisten Pawel Scheremet beschuldigt werden. Auf der entsprechenden Pressekonferenz von Innenminister Arsen Awakow war Selenskyj persönlich anwesend. Doch die Ermittlungen überzeugen nicht und es besteht großes öffentliches Misstrauen, ob die Inhaftierten an dem Mord tatsächlich beteiligt waren. Die bisher gesammelten Beweise sind unzureichend.

Selenskyj sagte am 20. Mai vor den Journalisten, er sei damals bei Awakows Pressekonferenz gewesen, weil er bei allen Briefings anwesend sein wolle, die mit aufsehenerregenden Fällen zu tun haben – wie den Erschießungen auf dem Maidan während der Revolution der Würde im Winter 2014 und den Morden an der Aktivistin Kateryna Handsjuk und dem Journalisten Pawel Scheremet. 

“Den Fall Scheremet führt Innenminister Arsen Awakow und er weiß, dass er dafür verantwortlich ist. Wenn die Ermittler und dann das Gericht feststellen, dass die mutmaßlichen Mörder, die jetzt im Gefängnis sitzen, tatsächlich die Mörder sind, dann bleiben sie im Haft. Wenn nicht, werden diejenigen zur Rechenschaft gezogen, die den Fall vor Gericht gebracht und Unschuldige beschuldigt haben. Ich bin bereit, Verantwortung zu tragen. Aber ich bin nicht für die Ermittlungen verantwortlich. Der Präsident darf weder die Strafverfolgung noch das Gericht beeinflussen. Ich bin bereit, dann Verantwortung zu übernehmen, wenn die Ermittlungen falsch gelaufen sind, und werde dann ernsthafte personelle Konsequenzen ziehen”, so Selenskyj.

Über den Bau von Straßen und Brücken

Der Zustand der ukrainischen Straßen ist alles andere als zufriedenstellend. Auf seiner Pressekonferenz sagte Selenskyj, der Bau von Straßen und Brücken sei eine der Prioritäten seiner Präsidentschaft. Er wolle als Präsident in Erinnerung bleiben, der der Ukraine neue Straßen gebracht habe. “Wir wollen Straßen bauen, die unser ganzes Land verbinden. Sie sollen zu einem Schaufenster werden. Das sind 25.000 vorrangige Straßen. Ich bin mir sicher, dass wir bis zum Ende meiner Amtszeit – wie lange sie dauern wird, entscheiden die Menschen in der Ukraine – alle Staatsstraßen fertigstellen werden.” Für ein weiteres großes Brückenbau-Programm werden Selenskyj zufolge derzeit drei Milliarden US-Dollar gesucht.

Über eine zweite Amtszeit

Während des Wahlkampfes im vergangenen Jahr hatte Selenskyj betont, nur für eine Amtszeit anzutreten. Auf die Frage von Journalisten, ob er seine Meinung inzwischen geändert habe, sagte der Präsident: “Ganz ehrlich? Eine Amtszeit reicht nicht. Aber ich bin wie gesagt für eine angetreten. Die Arbeit ist schwierig und niemand wird Danke sagen. Aber wenn es seitens der Menschen in der Ukraine große Unterstützung geben wird, dann kann ich darüber nochmal nachdenken.” Selenskyj sagte, er sei nicht auf Beliebtheitswerte aus. Es sei ihm aber wichtig, ob er verdiene, Präsident und ein Diener des Volkes zu sein. Doch was die Einstellung der Menschen ihm gegenüber angehe, habe er keine Zweifel.