Am 17. November 2021 haben Journalisten von Bellingcat und The Insider Recherchen zu einer ukrainischen Operation veröffentlicht, deren Ziel die Festnahme von Söldnern der russischen “Gruppe Wagner” war, eines privaten Sicherheits- und Militärunternehmens, das im Interesse der russischen Regierung operiert. Der Bericht enthält neben einer detaillierten Beschreibung der Operation selbst auch Informationen dazu, warum sie letztlich nicht stattfand. Insbesondere der im August 2020 entlassene ehemalige Chef der Hauptabteilung für Aufklärung beim ukrainischen Verteidigungsministerium, Wasyl Burba, erklärt in dem Bericht, Präsidialamts-Chef Andrij Jermak habe vorgeschlagen, die Operation gegen die “Wagnerianer” um eine Woche zu verschieben, um die Waffenstillstandsvereinbarungen für den Donbass mit Russland ab dem 27. Juli 2020 nicht zu gefährden.
Am 15. November hatte der vorläufige Untersuchungsausschuss des ukrainischen Parlaments, der dem Fall nachging, seine Ergebnisse vorgelegt. Sie stimmen allerdings nicht mit dem überein, was die internationalen Recherchen sagen. Warum ist das so und warum wissen die Ukrainer immer noch nicht, was wirklich geschah? Eine Analyse basierend auf ukrainischen Medienberichten:
Worin bestand die Operation. Die abgebrochene Operation zur Festnahme russischer Söldner kam Ende Juli 2020 ans Licht. Damals wurde eine Gruppe von drei Dutzend Russen, die an privaten bewaffneten Einsätzen beteiligt waren, kurz vor den Präsidentschaftswahlen in Belarus festgenommen. Später stellte sich heraus, dass einige von ihnen im Donbass aufseiten der Besatzer gekämpft hatten und einige mit Abschüssen von Flugzeugen, darunter der Zivilmaschine MH17, in Verbindung gebracht werden.
Belarus lieferte keinen der Männer an die Ukraine aus und sie kehrten nach Russland zurück. Einige Wochen später schrieben ukrainische Medien, dass die Russen von Vertretern ukrainischer Behörden getäuscht worden seien und dass es sich dabei um eine Operation des ukrainischen Geheimdienstes gehandelt habe. Und die sollte für die Männer in ukrainischen Gefängnissen enden.
Laut einer Version sollte das Flugzeug mit den russischen Söldnern an Bord von Belarus in die Türkei starten, aber in der Ukraine landen. Doch dies verzögerte sich. Die Russen blieben einige Tage länger in Minsk und schließlich scheiterte die Operation gänzlich. Die Männer wurden vom belarussischen Geheimdienst festgenommen und trotz eines Appells der Ukraine, darunter von Präsident Wolodymyr Selenskyj, nicht an die Ukraine, sondern an Russland übergeben.
Was die ukrainischen Behörden 2020-2021 dazu erklärten. Das Präsidialamt, der Geheimdienst und der Sicherheitsdienst bestritten fast ein Jahr lang, dass es diese Operation überhaupt gab. Journalisten und Oppositionelle wurden sogar beschuldigt, russische Narrative zu verbreiten und die Lage im Land zu destabilisieren. Erst im Sommer 2021 bestätigte der ukrainische Präsident erstmals vage die Operation, bezeichnete sie aber als eine ausländische. Seitdem behaupteten die ukrainischen Behörden fast ein Jahr lang, die Aktion mit den “Wagnerianern” in Belarus sei eine Provokation der Russen gewesen.
Was Russland und Belarus dazu erklärten. Russland behauptete hartnäckig, ukrainische und amerikanische Geheimdienste hätten die “Wagnerianer” nach Belarus gelockt, um dort vor den Präsidentschaftswahlen die Lage anzuheizen und Streit zwischen den Staaten zu stiften. Und Belarus behauptete zunächst, die “Wagnerianer” seien von den Russen geschickt worden, um die Lage vor der “Wahl” des Präsidenten zusammen mit der belarussischen Opposition zu destabilisieren. Aber die starke Hand von Alexander Lukaschenko habe diese schmutzigen Pläne rechtzeitig gestoppt. Doch als Lukaschenko nach der Wahl ins Wanken geriet, übergab er die “Wagnerianer” doch noch an Russland.
Ergebnisse des parlamentarischen Untersuchungsausschusses: Die Operation wurde verschoben. Auf wessen Befehl dies geschah, ist unklar. In den ersten Monaten hatten oppositionelle Kräfte immer wieder verlangt, dass der Vorgang mit den “Wagnerianern” vom Parlament untersucht wird. Im Frühjahr 2021 beschloss die regierende Partei “Diener des Volkes” schließlich, eine vorübergehende Untersuchungsgruppe einzurichten, der aber nur Vertreter dieser Partei angehörten.
Sie sollte nicht nur die Operation gegen die russischen Söldner untersuchen, sondern auch das Blutvergießen während der Kämpfe im Donbass um Ilowajsk und Debalzewe, die Annahme der Minsker Vereinbarungen und die Verhandlungen mit den russischen Behörden, insbesondere von Wiktor Medwedtschuk.
In der ersten Septemberhälfte 2021 veröffentlichte die Leiterin des Untersuchungsausschusses, Marjana Besuhla, erstmals einen öffentlichen Bericht über Zwischenergebnisse. Sie bestätigte, dass die Geschichte mit den “Wagnerianern” wirklich stattgefunden hatte.
Die offizielle Version lautet so: Seit 2014 dokumentiert der ukrainische Geheimdienst die Rebellen. 2018 begann die zweite Phase, die Rekrutierung. Und bereits im Jahr 2020 begannen die Geheim- und Sicherheitsdienste, die Operation vorzubereiten. Sie sollte laut Besuhla tatsächlich dazu dienen, russische Söldner aus Russland anzulocken. Dazu wurden sie angeblich von einer erfundenen Privatarmee angeheuert. Der Plan habe aber keine unerwartete Landung des Flugzeugs in der Ukraine vorgesehen, sondern die “Wagnerianer” sollten in der Türkei festgenommen werden.
Der Untersuchungsausschuss behauptet, dass die ukrainische Sonderoperation nicht abgebrochen oder abgesagt worden sei. Angeblich sei nur der Abflug der Männer aus Belarus in die Türkei wegen “drohenden Scheiterns” verschoben worden, und zwar vom 25. Juli auf den 30. Juli 2020. Der Ausschuss konnte jedoch nicht feststellen, wer in der Ukraine diese Entscheidung traf. Es wurde kein Dokument mit einer entsprechenden Anweisung gefunden.
Der Ausschuss fand auch keine Beweise dafür, dass Präsident Wolodymyr Selenskyj die Verschiebung der Operation angeordnet haben könnte. Und der Leiter des Präsidialamtes, Andrij Jermak, verfügt nicht über entsprechende Befugnisse. Der Verteidigungsminister konnte im Rahmen dieser Sonderoperation nur bestimmte Aktionen genehmigen, sie aber nicht insgesamt leiten.
Was sagen die Recherchen von Bellingcat? Sie berufen sich auf den ehemaligen Chef der Hauptabteilung für Aufklärung des Verteidigungsministeriums, Wasyl Burba, der im August 2020 unmittelbar nach dem Scheitern der Operation entlassen wurde. Dieser hatte erklärt, der Leiter des Präsidialamtes Jermak habe vorgeschlagen, die Operation um eine Woche zu verschieben.
Einen Tag vor der Abreise der russischen Söldner aus Russland nach Belarus zum Weiterflug in die Türkei, am 23. Juli, sollen Burba und der stellvertretende Chef des Sicherheitsdienstes der Ukraine (SBU), Ruslan Baranezkyj, angeblich ins Präsidialamt gekommen sein und über die Operation berichten wollen, doch Selenskyj soll beschäftigt gewesen sein. Daher trafen sie sich laut Burba mit Jermak, der dann vorgeschlagen haben soll, die Operation zu verschieben, da die Ukraine einen Tag zuvor eine Einigung über einen neuen Waffenstillstand im Donbass erzielt hatte. Laut Burba hieß es im Präsidialamt, sollte die Operation wie geplant fortgesetzt und mit der Inhaftierung der “Wagnerianer” am 25. Juli enden, dann würde der Waffenstillstand scheitern, noch bevor er beginne.
Bellingcat war nicht in der Lage, dieses Gespräch selbst nachzuprüfen, und das Präsidialamt äußerte sich dazu nicht. Burba erklärte, er habe damals gesagt, eine Verzögerung um eine Woche sei unmöglich und könnte dazu führen, dass die Söldner oder die belarussischen und russischen Geheimdienste Verdacht schöpfen. Daraufhin hätten, so Burba, Vertreter des Präsidialamts vorgeschlagen, die Verschiebung auf vier Tage zu verkürzen, sodass die Abreise und Gefangennahme der “Wagnerianer” auf den 29. Juli 2020 verschoben wurde. So könnte dann ein neuer Waffenstillstand in Kraft treten.
Als die erste Gruppe von 33 Söldnern bereits Moskau verließ, konnte die Hauptabteilung für Aufklärung des ukrainischen Verteidigungsministeriums die Tickets nicht für den 29. Juli, sondern nur für den 30. Juli umbuchen. Die zweite Gruppe von 13 Söldnern buchte die Tickets für den 1. August um. Burba habe, so Bellingcat, vom Präsidialamt Informationen erhalten, dass der Plan weiter umgesetzt werde, wenn auch mit fünftägiger Verzögerung.
Die “Wagnerianer” kamen zu einem ungünstigen Zeitpunkt in Minsk an, nur wenige Wochen vor der Präsidentschaftswahl. Lukaschenko verdächtigte damals sein ganzes Umfeld, sich gegen ihn zu verschwören und zu versuchen, das Regime zu stürzen. Und dann erhielten die belarussischen Behörden auch noch Informationen, wonach mehr als 200 Militante ins Land gekommen seien, um “die Situation während des Wahlkampfs zu destabilisieren”. Am 29. Juli wurden die Söldner, die in der Ukraine erwartet wurden, in Belarus festgenommen.
Laut Bellingcat berief daraufhin der belarussische Außenminister am 30. Juli 2020 den vorübergehenden Botschafter der Ukraine nach Minsk ein, um über die Festnahme der “Wagnerianer” zu berichten und von der Ukraine Informationen über mögliche von ihnen in der Ukraine begangene Verbrechen zu erbitten.
Die Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine richtete an Belarus am 3. August ein Ersuchen zur vorübergehenden Verhaftung von 28 der 33 “Wagnerianer”. Doch zu dem Zeitpunkt wartete die belarussische Staatsanwaltschaft bereits auf ein offizielles Auslieferungsersuchen. Laut Bellingcat wurde dieses von der Ukraine erst nach acht Tagen gestellt, also am 11. August 2020.
Die ukrainischen Behörden arbeiteten derweil informell zusammen: Der SBU lieferte belarussischen Kollegen Informationen über 33 Söldner und den Rest der “Rekrutierten”. Und Präsident Selenskyj setzte sich am 5. August 2020 in einem Telefongespräch mit Lukaschenko persönlich für die Auslieferung der “Wagnerianer” an die Ukraine ein.
Allerdings stellte am selben Tag der russische Generalstaatsanwalt bei der belarussischen Staatsanwaltschaft einen offiziellen Antrag auf Überstellung von 32 inhaftierten Russen nach Moskau. Bereits am 14. August wurde bekannt, dass Belarus jene “Wagnerianer” an Russland ausgeliefert hatte. Einer der 33 Festgenommenen besitzt neben der russischen Staatsbürgerschaft auch die belarussische und blieb so in Belarus.
Der Unterschied zwischen den Bellingcat-Recherchen und den Ergebnissen des ukrainischen parlamentarischen Untersuchungsausschusses ist signifikant: Während beide von einer Verschiebung der Operation um einige Tage sprechen, die zu ihrem Scheitern führte, können die ukrainischen Parlamentarier nicht herausfinden, wer diese Verschiebung angeordnet hatte. Sie berücksichtigen nicht die Aussagen des ehemaligen Leiters der Hauptabteilung für Aufklärung des Verteidigungsministeriums, Wasyl Burba, der damals die Sonderoperation führte.